DIESER TAGE IN BERNAU

■ Kunst, Leben und anderes: Ein Ausflug in die kulturelle Peripherie

Die Zone wird vielen plötzlich zum Ort, an dem früher Wünsche in Erfüllung gingen. Vielleicht auch jetzt, wenn man mit der S-Bahn fährt, weil längere Strecken mit der S-Bahn ohnehin immer angenehm wehmütig machen, zumindest wenn man nicht zur Arbeit fährt. Den aufmerksamen Westler verbindet die S-Bahnfahrt zur nördlichsten Station mit seiner Kindheit. Sie wird zu einer Wunsch- oder Erinnerungsmaschine, die ihn vorbeiführt an der Mauer, die an einzelnen Stellen schon von einem Zaun ersetzt ist. Ein paar hundert Meter wird der Zug - nur noch durch eine imaginäre Grenze geschieden - von der Westbahn begleitet. An manchen Stellen liegen, völlig nutzlos, da nicht einmal bemalt, Mauersegmente herum. Industrie, Müll dann, Häuser wieder, die in ihrer 70er-Jahre-Modernitätsgeste so provisorisch brüchig wirken, daß sie den eigenen Wünschen Raum lassen. Diese Wünsche kommen aus der Vergangenheit; man fährt vorbei an Landschaften oder Architektur, die ihren Ort in weit zurückliegender Kindheit hat. Die Kinderaugen hatten zuletzt die 60er Jahre gesehen, im Fernsehen der 60er auch die 50er usw. Und diese Bilder sind hier als Wirklichkeit erhalten. Also überfällt den Reisenden angenehme Wehmut, während Stadt, Trabantenstadt, Schrebergärten, Landschaften, Kleinstädte oder Dörfer freundlich vorbeiziehen, bis dann die S-Bahn hält.

Auf dem Weg nach Bernau wird man die erste Kunst im U -Bahnhof Rosa-Luxemburg-Platz sehen; Novemberrevolutionscollagen, Heartfieldzitate einer fehlgegangenen Revolution; die Bilder ihres gegenwärtigen Pendants am U-Bhf. Alexanderplatz wollen noch ins gesellschaftliche Leben eingreifen. Revolutions- oder Denkzitate großer Männer - Büchner, Goethe, Heiner Müller, Marx. Wenn die Revolution, Wende oder Wandlung vollzogen ist, wird Kunst zwar vielleicht noch im östlichen Sinne brauchbar sein - alle gucken und lesen, zumindest am Rosa -Luxemburg-Platz - aber doch auch schon im westlichen Sinne überflüssig. Ihr Hoffnung, Utopie - meist mit den Mitteln der 70er-Jahre-Popkunst - noch irgendwie zu retten, scheint von einer Politik, die die Kultur ignoriert, längst überholt. Zumindest „in Bernau frißt die Revolution schon ihre Kinder, ohne daß sie überhaupt je angekommen wäre“, meint Gunda Ihlow, Kulturwissenschaftlerin und künstlerische Leiterin der Bernauer Künstlergalerie in der Thälmannstraße 4. „Bevor das Volk gerufen hat 'wir sind das Volk‘, waren die Künstler schon lange am Ball. Seit Januar aber kann man beobachten, daß die eigentlichen Anreger dieser ganzen Geschichte an den Rand gedrängt werden, daß sich eine zunehmende Künstler- und Intellektuellenfeindschaft breit macht. Und alle neuen Parteien, auch die ehemaligen Blockparteien, vergessen ganz einfach, wie wichtig Kultur und Kunst für ein Volk sind zur Identitätsbegreifung. Die PDS“, so sagt sie, „die Gysi-Partei, ist die einzige, die bisher kulturpolitische Statements abgegeben hat.“ Gysi ist auf Plakaten zwar präsent in Bernau - am 14.2. wird er seinen Auftritt haben -, verschwindet aber fast hinter den Plakaten östlicher Westkopien.

Taxifahrer heißen in Bernau, wie um poetisch einzustimmen, Windfuhr, vielleicht werden auch bald welche Fahrgschwind heißen, um den Reiz des Naherholungsgebietes zu steigern. Nach der Wende hat die Stadt „einiges unternommen, was die Hotelbeschaffung betrifft, um in dieser Hinsicht ein günstigeres Programm zu besitzen“, meint Bürgermeister Klein, dessen Namen der Opposition Anlaß zu Spott gibt: „Klein ist auch nicht der Größte.“ „Im Einvernehmen mit unseren Freunden von der grünen Partei“ ist er bestrebt, „ein der Stadt gehöriges sehr interessantes Gebiet am Liegnitzsee in eine weiterführende Qualität zu bringen“. Ein Kultur- und Freizeitpark ist geplant, ein Schwimmzentrum ist im Gespräch. Ob der Bürgermeister, der von ferne an Premier Modrow gemahnt, allerdings die Kommunalwahlen vom 6. Mai überleben wird, steht in den Sternen.

Nach einer ökonomischen Blütezeit bis zum 30jährigen Krieg stand „unser altehrwürdiges Bernau“ bis zur Gegenwart im Schatten „der aufstrebenden Residenz und heutigen Hauptstadt Berlin“. Vor mehr als 700 Jahren, „während der Eroberung dieser slawischen Gebiete durch deutsche Feudalherren, ist Bernau als deutsch-rechtliche Kolonialstadt“ entstanden. Selber Kreisstadt, gehört es zum Bezirk Frankfurt/Oder. Angaben über die Einwohnerzahl schwanken: Im Prospekt ist von knapp 20.000 Bürgern die Rede, der Bildhauer Lutz Gaedicke schätzt „3.000, nein fünfe - das ist sicher zu wenig - vielleicht 15.000?„; in der Kneipe bestätigt man seine letzte Schätzung - ein Viertel der Einwohner seien im letzten Jahr gegangen. Ein Polizist weiß es dann genau: 15.300.

Die Angaben sind so unterschiedlich, weil Bernau durch Strukturveränderungen in der Vergangenheit immer größer geworden ist. Allerorten gibt es Enklaven; so liegt das heutige Rehabilitationszentrum Wandlitz nicht in Wandlitz, sondern eigentlich in Bernau-Waldfrieden, und die ehemaligen Politbüromitglieder waren, um genau zu sein, Bewohner von Bernau. Die Leute arbeiten in der Industrie - im SPW (Schichtpreßstoffwerk) oder pendeln nach Berlin. Eine russische Garnison (die Zahl der Soldaten ist „Militärgeheimnis“) und NVA-Einheiten sind hier stationiert. Seit einem halben Jahr wächst die Fremdenfeindlichkeit, nicht nur gegen „Vietschis“ oder Polen, sondern auch gegen die „Koljas“. Früher sah man noch häufig russische Kinder und Frauen auf den Einkaufsstraßen - nun haben sie sich zurückgezogen. Die Ghettoisierung nimmt zu. In Gruppen sind sie immer noch Teil des Stadtbilds; schön-romantische Mädchen, die vielleicht noch mit stalinistischer Jugendliteratur großgeworden sind, werden bei ihrem Anblick weiter an kleine Helden denken, die auf kleinen Pferdchen dem Faschismus und allem Bösen die Stirn bieten.

Bernau liegt kurz hinter der Dunstglocke über Berlin Sonnenuntergänge, Sterne, Sonnenaufgänge, kurz, das Bernauer Licht verdient gerühmt zu werden. Ansonsten: Briketthaufen, die wie überall in der DDR herumliegen, eine „1.496 Meter lange, 8 Meter hohe Stadtmauer mit 42 Lughäusern“, alte Häuser, Marienkirche aus dem 6. Jahrhundert, Kopfsteinpflaster, Rundturm mit 8 Meter tiefem Verließ (Hungerturm) und zwischen sowjetischem Ehrenmal und Kaiser -Wilhelm-I.-Denkmal „für die im 19. Jahrhundert gefallenen Söhne der Stadt“ - „Beide Denkmale mahnen: Nie wieder Krieg“ - liegt das Henkerhaus, jetzt Herberge einer Abteilung des hiesigen Heimatmuseums. „Es hat uns sehr gut gefallen. Am besten haben uns die Folterwerkzeuge gefallen“, haben ein paar junge Teenies ins Besucherbuch hineingeschrieben. Andere freuen sich, „das erste Mal“ wieder am Ort ihrer Kindheit zu sein. Ein Westtourist beschwert sich, daß er hier nicht videotisieren dürfe, und will den Chef sprechen. Man sollte ihn verbrennen, säcken, köpfen, hängen, lebendig begraben oder rädern. Dazu müßte man ihn auf den Boden anpflocken und ihm dann mit dem Rad die Knochen zerschlagen. Doch diese Hinrichtungsart wurde bereits Ende des 18. Jahrhunderts abgeschafft, und die meisten Folterexponate des Henkerhauses sind im Moment leider an das DDR-Fernsehen ausgeliehen.

An der Stadtmauer steht dieses Haus „ohne die in der Stadt übliche Hausnummer“, ist also irgendwie ein Ort am Rande, der - ohne Nummer -, außerhalb oder hinter der Ordnung, half, die feudale Ordnung aufrechtzuerhalten. „Als Nachrichter waren die Scharfrichter die Vollstrecker der Urteile der Gerichte“, erläutert ein Schildchen.

In der Thälmannstraße, dem Einkaufszentrum der Stadt, findet man die Galerie Bernau. Seit 15 Jahren schon hatten sich Künstler des Kreises darum bemüht, eigene Ausstellungsräume zu bekommen. Im September '89 klappte es dann endlich. „Im Sommer tobten hier im Bezirk Frankfurt/Oder die Arbeiterfestspiele. Und damit gab's Geld für die Kommune“, erzählt Gunda Ihlow, künstlerische Leiterin der Galerie. Künstler des Kreises, die zuvor „einzeln rumgestrampelt“ hatten und „die administrativen Formen von Kunst satt hatten - wir sind doch nicht mehr beim Bitterfelder Weg, weder beim ersten noch beim zweiten“ taten sich zusammen und bildeten einen Galeriebeirat, in dem sie als Künstler in der Mehrheit waren. „Da kam dann einfach soviel Individualität und Subjektivität, aber eingebettet in eine Objektivität, zusammen...“, philosophiert Frau Ihlow, aber da war es auch schon ziemlich spät. Immer wieder gab es Differenzen mit der Gemeinde - „die hatten die Vorstellung, daß die Galerie doch die Volkskunst mit 'rein nehmen könnte und den Anglerverband und dieses und jenes...“, so der Bildhauer Lutz Gaedicke, der ebenfalls an der Galerie beteiligt ist - doch bisher setzte man sich durch. „Und dann war es 'ne glückliche Fügung, daß so viele starke Künstlerindividualitäten dabei waren“.

In der Galerie werden Werke von im Kreis Bernau lebenden und arbeitenden bildenden Künstlern ausgestellt; „auf daß die Bevölkerung spürt, daß der Künstler nicht nur lebt, daß er irgendwo im Atelier oder in der Natur arbeitet, sondern daß das ein Werk ist, daß das geistige Leben der Menschen bereichert“, wie es Bürgermeister Klein so glücklich formulierte. Das Publikum ist denkbar unterschiedlich. „Ab und zu kommen ein paar 'Koljas‘, frisch gewaschen, Hals und alles, und dann stehen die vor der Tür - schöne Gesichter, Augen, alles prima, und dann gucken die sich Kunst an in dieser völlig naiven Form. Wissen nichts von Kunstgesetzen oder solchem Schwachsinn. Da geht in den Augen was vor... Das ist Wahnsinn. Da könnt‘ ich mich hinsetzen und heulen und könnte die ganzen Deutschen verprügeln“.

Kinder gehören zum Stammpublikum. „Das ist so was Schönes... Heute waren schon wieder drei Mützen drin“, berichtet Frau Ihlow. „Die stehen erst an der Scheibe und gucken mich groß an und sind verwundert, wenn sie nicht rein dürfen. Na ja, und du bist beim Aufbauen und machst die Tür auf und sagst: 'Gucken könnt ihr ja schon, aber kommen könnt ihr erst Montag. Jetzt müssen wir arbeiten wegen der Eröffnung.‘ Dann stehen sie fünf Minuten herum, gucken, machen ihre unterschiedlichsten Kommentare und gehen wieder. Zwei sind schon draußen und die letzte, die sich ein bissel zu spät überwunden hat, in's Besucherbuch zu schreiben, läßt alles stehen und liegen und schreibt nicht einmal das Wort zu Ende, weil die Freunde schon fort sind. 'Nächste Woche kommen wir wieder‘, sagen sie zum Abschied. Und die kommen unter Garantie wieder.“

Viele schauen beim Einkaufen herein. „So richtig noch mit Bagage beladen, manchmal ganze Familien mit ihrem Einkaufszeug.“

Manchmal kamen auch „Leute, die nie zuvor in der Galerie zu sehen waren und ein Bild kaufen wollten, das sie zuvor wochenlang wohl schon im Schaufenster angeschaut hatten. Das Bild war nicht da, aber sie konnten es so detailliert beschreiben, daß wir es wiedererkannten. Diese Geschichten häuften sich. Die Ausstellungstätigkeit, die wir betreiben, wird also von draußen genauso beobachtet, wie von den Leuten, die über die Schwelle gehen“, erzählt Lutz Gaedicke. Doch nicht alles ist so erfreulich: „Als wir die erste Malereiausstellung hatten, im November, hatten wir die ersten Haie drin. Die kamen aus Hamburg und wollten ganze Kollektionen sofort aufkaufen - mit 25.000 Mark sind wir dabei - da haben wir abgeblockt. Wir fanden das unwürdig, für 25.000 Ostmark eine Kollektion von 7 Ölgemälden zu verkaufen. Das fanden wir ziemlich unfair.“

Auch wenn Gunda Ihlow immer wieder betont, daß die Galerie kein vordergründiges Verkaufsinteresse habe und daß sie nach Gesetzeslage auch gar nicht verkaufen dürfe - momentan hat immer noch der staatliche Kunsthandel das Verkaufsmonopol -, wird man sich zwangsläufig an den kommenden Markt anpassen müssen. - „Nu mach doch nicht so'n Schmu“, unterbricht sie Lutz Gaedicke immer wieder, „da alles kommerzialisiert wird und bisher überhaupt nicht abgesichert ist, wo der Lebensunterhalt nun herkommen wird, wo die offiziellen Aufträge weniger werden, die ja jetzt schon spärlich genug sind, kannst du doch die Möglichkeit der Galerie, den Verkauf zu vermitteln, nicht herunterspielen.“ Momentan gibt die Galerie jedem Kaufinteressierten die Möglichkeit, sich mit dem ausstellenden Künstler in Verbindung zu setzen.

Die künstlerische Leiterin verteidigt vor allem ihr kulturpolitisches Konzept. „Ein Volk“, so sagt sie, „das moralisch-ethisch so heruntergewirtschaftet ist, wie dieses und nur noch die Flucht in die Einheit anstrebt, braucht ganz einfach zur Wertefindung, Identitätsfindung, wie auch immer, irgendwo seinen Halt. Kunst und Kultur sind immanente Bestandteile dafür. In den Kommunen, wo Kunst- und Kulturpolitik überhaupt nicht mehr klappt und verwahrlost ist, ist einfach auch dieser Identitätsbegriff völlig verwahrlost; und der ist bei den Künstlern wesentlich stärker ausgeprägt als bei den Bürgern.“ In Bernau klingt solch ein Satz noch glaubhaft. Einleuchtend ist auch, daß die Galerie ganz bewußt gerade jetzt eine Ausstellung macht, die eigentlich ihrem Konzept - Zwischenbereiche zur Darstellung kommen zu lassen, Neues zu fördern widerspricht. Ute Mohns, der in der elften Klasse „plötzlich ein Engel auf die Schulter geflogen“ kam, der ihr riet zu malen, und Michael Mohns sind in ihren stillen Werken eher traditionell. „Bloß bei diesen konfusen und desolaten Zeiten finden wir es ganz einfach wichtig von der Ausstellungspolitik her, daß wir diese Traditionsaspekte doch ein bißchen mehr betonen.“

Einiges mehr noch hatten wir zu bereden. Der Beirat der Galerie bemüht sich, als Verein anerkannt zu werden. Um das Fachwerkhaus, das der Bezirk bisher nur zur Verfügung gestellt hat, zu kaufen; „um etwas zu manifestieren, was die Wahlen überdauert“, um gemeinsam Rechte einzuklagen; um als DDR-Künstler zu überleben. Der kulturinteressierte Bürgermeister will sie dabei unterstützen: „Wir werden gemeinsam nach Wegen zu suchen haben, wie dem Künstler unseres Landes, der ja gewachsen ist, der auch Leistung bringt, unter die Arme zu greifen ist, daß er arbeitsfähig bleibt, daß er lebensfähig bleibt.“

Draußen gab es eine Mondfinsternis, die sicher in Bernau besser zu beobachten war als in Berlin. Ein Stückchen fuhren wir heim mit den Künstlern, die auch prompt, weil ständig erneuert wird und Einbahnstraßen da entstehen, wo es früher keine gab, von der Polizei angehalten wurden. Wie ein taz -Reporter, der eine Polizeistreife eine Schicht lang begleitet hatte, letzte Woche schon berichtete, haben die VoPos die Anweisung bekommen, allesamt das Polizeiauto zu verlassen, um als Bürger dem Bürger frei und gleich gegenüber zu stehen. Dies läßt sich bestätigen: Zwei bleiben als Pat und Patachon am Wagen stehen; der eine schämt sich seiner Länge, der andre seiner Kürze, und ein Dicker belehrt. Fünf Mark kostet das, und keiner muß pusten, und Lutz Gaedicke, der Bildhauer, freut sich, weil er doch schon fünf Stempel in seinem Führerschein hat. - Man könne den doch einfach mal in der Hosentasche stecken lassen und dann in die Waschmaschine tun - so würden die Stempel verschwinden. Ein ähnlicher Vorschlag kam schon am Nachmittag in Sachen Personalausweis und Begrüßungsgeld. Das hätten viele gemacht oder eben ihren Ausweis „verloren“ oder Seiten rausgerissen, und einer, der sich selbst in der Kneipe als „Bulle“ vorgestellt hatte, meinte, dazu wäre es wohl jetzt doch schon zu spät.

Detlef Kuhlbrodt