Mit uns keine Koalition zum Nulltarif

■ Fraktion der AL zog Bilanz von 300 Tagen Regierungsbeteiligung / 60seitiger Rechenschaftsbericht wird der MVV erst im März vorgelegt / Fazit: „Wir wollen weitermachen“ / Aber: „Mit uns keine Koalition zum Nulltarif...“

„Wir wollen zornig, konflikt- und diskussionsfreudig weitermachen“ - so lautet die Bilanz der AL -Fraktionsvorsitzenden Heidi Bischoff-Pflanz nach 300 Tagen Regierungsbeteiligung. Die AL hatte sich von Mittwoch bis Samstag zu einer Klausurtagung aufs niedersächsische Land bei Bad Bevensen zurückgezogen, um über den Stand der rot -grünen Koalition, über Ertrag und Defizite zu reflektieren. Der AL-Mitgliedervollversammlung, die auf Antrag des Delegiertenrats verschoben worden war, wird ein Rechenschaftsbericht von über 60 Seiten vorgelegt, in dem sowohl eine Gesamtbilanz gezogen wird als auch die einzelnen Abgeordneten über den Stand ihrer politische Arbeit in den jeweiligen Bereichen berichten.

Die Bilanz wurde von den Vorstandsmitgliedern Bischoff -Pflanz, Renate Künast und Albert Statz erarbeitet, mit dem Hinweis, daß sie nicht unbedingt die Meinung aller drei Beteiligten wiedergebe. Klares Fazit: „Wir empfehlen, die Koalition weiterzuführen.“ „Bei aller berechtigten Kritik und den Enttäuschungen über diese Koalition, ist eines ihrer größten Verdienste ihre Existenz“ heißt es in dem Bericht. Eine neue politische Kultur in der Auseinandersetzung mit dem großen Koalitionspartner habe man entwickeln wollen, streitbar wollte man Politik machen. Diese Haltung müsse in Zukunft verstärkt werden, eine Koalition zum Nulltarif sei mit der AL nicht zu haben.

Viele Schwierigkeiten klingen in dem Rechenschaftsbericht an, so die Erkenntnis, daß eine parlamentarische Mehrheit noch keine gesellschaftliche bedeute oder die unterschiedlichen Vorstellungen zwischen den Koalitionspartnern in der Umsetzung der vereinbarten Politik. Der Ärger über die SPD, der man zum Regieren verholfen habe und von der man in der praktischen Arbeit oft den Eindruck habe, sie tatsächlich beim Regieren zu stören, werden ebenso formuliert wie die Selbstherrlichkeit des Regierenden. Bemängelt wird auch, daß der Fraktionsvorstand im Vergleich zur Oppositionszeit gegenüber GA, Delegiertenrat und MVV ein bisher nicht gekanntes Gewicht erhalten habe. Die AL müsse dringend ihre Politikbereiche besser strukturieren und sich darüber klar werden, was mit einer Koalition tatsächlich zu erreichen ist. Eine breite Diskussion in allen Bereichen angesichts der veränderten Situation nach dem 9. November sei absolut vorrangig, um ökologische, demokratische und soziale Konzepte für beide Stadthälften zu erarbeiten. Der Rechenschaftsbericht sei einvernehmlich auf der Klausur besprochen worden und habe nicht abgestimmt werden müssen, so der Abgeordnete Bernd Köppl gestern vor Journalisten. „Auch für uns war das ein überraschendes Ergebnis“, meinte Köppl.

Strittig war dagegen bereits im Vorfeld die Deutschlandpolitik, wo sich eine Minderheit der Fraktion für eine Abkehr von der bisher strikt verfolgten Zweistaatlichkeit ausgesprochen hatte. Diese Position wurde abgeschwächt, ohne sich allerdings für die Einheit beider deutschen Staaten auszusprechen. Unter dem Titel „Die deutsche Notvereinigung“ erklärt die AL aufgrund der Veränderungen in der DDR: „Wir müssen unsere praktische Politik auf den Prozeß der Verbindung der beiden deutschen Staaten einstellen.“ Die Argumente gegen einen deutschen Einheitsstaat seien auch in Zukunft gültig, und die AL werde versuchen, den Prozeß zur Vereinigung zu verlangsamen und anzuhalten, wo immer es ginge. Ein deutscher Zentralstaat bringe die Gefahr eines neuen friedensgefährdenden Machtzentrums mit sich. „Der gegenwärtige Prozeß in der DDR hat mit freier Selbstbestimmung nichts zu tun“, beschrieb Hilde Schramm die auf der Tagung mehrheitlich abgestimmte Position. An der Abstimmung waren allerdings nicht alle Fraktionäre beteiligt, denn der Vorstand war am Freitag von Senatssprecher Kolhoff nach Berlin zurückgerufen worden, nachdem die Berliner Bank den Ankauf von DDR-Mark eingestellt hatte.

Kordula Doerfler