Lob der kleinen Ästhetik

■ Das Projekt „Kultur und Neue Medien“ in Nordhrein-Westfalen bricht mit dem öffentlich-rechtlichen Kanon aus Normsprache und sterilen Bildern / Perfektionismus mit der Stoppuhr in der Hand ist nicht angesagt

Die Nation verkommt. Vor dem Bildschirm. Ob da nun TV geglotzt oder „computert“ wird - die Wahrnehmung kommt auf den Hund. Der Kopf ist mit Bildern besetzt: „Endstation Seh -Sucht“ titelte unlängst ein Hamburger Magazin. Analphabetismus wird prognostiziert, der Fernseher wird zum Gegenstand des Kinderschutzes. Die Situation ist ausweglos. Medien sind des Teufels. Da mal‘ ich mir doch lieber ein Bild von der Welt, in wunderbaren Pastelltönen, mit einem leisen Wind im Hintergrund, der über die Leinwand streicht.

Auch andere „malen“ sich ein Bild. Ganz ohne Leinwand, Pinsel und Palette. Mit einem „Malprogramm“ beispielsweise. Und sie stöhnen ganz und gar nicht über die Medienteufelei. Wenn sie stöhnen, dann lustvoll: Sie spielen mit dem Medienzeug, produzieren Kultur, durch Simulationstechniken verändern sie die Wirklichkeit. Der Bunker wird zum Leuchtturm. Graubetonierte Leerflächen werden zu Wiesen. Parkplätze zu Parkanlagen. All dies zwar auf dem Bildschirm, dem verteufelten, aber dennoch eine Animation zur Veränderung der scheinbar so unverrückbaren Realitäten.

Wer die Räume des Projekts Kultur und Neue Medien (gefördert vom Kultusministerium Nordrhein-Westfalen) im westfälischen Hamm betritt, macht sich erst einmal steif: jede Menge graugespritzter Personal-Computer, keuchender Telefaxe und unschuldig dreinschauender BTX-Geräte. Doch dann wird der geschockte Besucher auch schon in den Arm genommen - keine Angst, all die Geräte sind für dich, nicht du für sie. Schau nur, dieser junge Türke da, der hatte auch erst Berührungsängste - doch er kam mit einer Idee, einem Thema, das ihm wichtig war. Die Umsetzung von Ideen braucht Werkzeuge - nichts anderes liefern wir.

Und jetzt schreibt Muharin ein Drehbuch, am Bildschirm. Sein Thema: Ausländerfeindlichkeit auf der Zeche, in der Grube, unter Tage. Und Muharin schreibt nicht nur. Abgedreht wird seine Sichtweise des Ausländerhasses: „Als die Leute von der Volkshochschule von meinen Plänen hörten, haben sie mich in das Projekt geschickt, jetzt unterstützen mich die Leute von Kultur und Neue Medien, wo es nur geht.“ Muharin macht mitsamt Darstellern, Kameramann und Regieassistenz sein Fernsehen selbst, so daß er kaum noch Zeit für die öffentlich-rechtliche Glotze hat. Seine Produktion Jeder ist einmal Ausländer wird demnächst ihre Premiere haben.

Wehe dem aber, der Muharins Werk mit den Maßstäben der vielzitierten „Professionalität“ mißt, den Maßstab der öffentlich-rechtlichen Ästhetik an seinen Film legt. Projektleiter Joern Schlund (Maler, Therapeut, Pädagoge) stellt beim kreativen Produktionsprozeß mit dem Mittel „Neue Medien“ die „kleine, private Ästhetik“ in den Mittelpunkt. Sie aufzuwerten, ihr Raum zu verschaffen, heißt auch mit dem Codex steriler Bilder und normierter Sprache zu brechen. Wenn das Postulat der öffentlich-rechtlichen Perfektion nicht im Raume steht, dann kann auch von einem „anderen“ Fernsehen die Rede sein, von einem, das das Publikum nicht nur als „Stichwortgeber“ benutzt, über die Abwesenheit jeder „Atmosphäre“ (Fachjargon „Atmo“) in den angeblichen Originaltönen“ (Fachjargon: „O-Töne“) jubelt und Eindrücke mit der Stoppuhr sammelt.

Ein anderes Stichwort in Hamm: „Radio Days“. Eine Gruppe junger Radiomacher geht demnächst „auf Sendung“ - vielleicht „nur“ in einem Kinderkrankenhaus, auf alle Fälle aber im „Umfeld“ ihres Projekts. Sie moderieren, produzieren selber, statt sich von irgendwelchen „jungen Wellen“ einlullen zu lassen. Joern Schlund: „Die durchschauen jetzt die Traumfabrik, sind zwar ergriffen von dem, was sie da sehen, wissen schließlich aber, wie es gemacht wird!“

Genau dieses „Machen“ ist Inhalt des Projekts: keine medienpädagogischen Hinterhalte werden gelegt, kein Theoriekurs findet statt. Medien sind in Hamm schlicht Werkzeuge „en passant“, die Wahrnehmung unterstützen soll und zu Mitteln der Dokumentation der eigenen Ideenvielfalt werden.

Ein weiteres Beispiel: Die ZWAR-Gruppe, Senioren, die ihre Alltagsgeschichten in einer selbstgemachten Zeitung erzählen oder auch die Macher der Schülerzeitung 'Projektor‘, die schließlich auch nur entstand, weil die Neuen Medien ja so nahe liegen, um die Ecke sozusagen. In den Räumen einer Hauptschule in Hamm. Aus diesen Räumen schwappt das kreative Potential ins kulturelle Umfeld und signalisiert: „Die Scham ist vorbei“ - Jede(r) ist ein(e) KünstlerIn. Und das Medium bleibt Medium: Mittel zum Zweck.

Detlef Berentzen

Projektadresse: Kultur und Neue Medien, Brandströmstraße, 4700 Hamm