PRAKTISCHE ETHIK

 ■  Die Diktatur der Dummheit im Dienste des Lebens

Der Philosoph Peter Singer hat Glück, daß er in Australien lebt und seine „faschistischen Thesen“ vornehmlich renommierten Universitäten des Auslands untergejubelt hat. Denn die blöden Ausländer haben seit Jahren nicht bemerkt, daß dieser Professor ihnen unter dem Etikett „Ethik“ nationalsozialistisches Gedankengut serviert. Auch daß er mit seiner Meinung, die Tötung schwerbehinderter Neugeborener und Sterbender sei moralisch verantwortbar, „an die Politik der Selektion unwerten Lebens anknüpft“, ist niemandem aufgefallen. Jetzt aber hatte Singer Pech, er ist unter die Nachkommenschaft der SS und die Brut der rasenden Mitläufer gefallen, und die haben es sofort begriffen. Den meisten reichten schon ein oder zwei Sätze aus Singers Buch Praktische Ethik, um zu dem Schluß „rassistisch“, „faschistisch“, „behindertenfeindlich“, „menschenverachtend“ zu kommen. Eine „Erklärung Berliner PhilosophInnen“, die „argumentative Toleranz“ gegenüber Singers Thesen forderte, provozierte ein Flut der Empörung, Tu-gut-Menschen aus Kirchen, Gewerkschaften, Sozialorganisationen und Universitäten fällten ihr Urteil im Schulterschluß: Auf deutschem Boden darf so nicht argumentiert werden. „Singers vielzitierte These - Die Tötung eines behinderten Säuglings ist nicht moralisch gleichbedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht ist in keinem, aber auch in gar keinem Zusammenhang diskutierbar!“ heißt es in einer Resolution „Wider den tödlichen philosophischen Liberalismus“ (taz, 6.2.); sie liefere „die ethische Grundlage, auf der Auslese- und Vernichtungspolitik öffentliche Akzeptanz gewinnt.“

Als Handlungsanweisung gelesen, sind Singers Thesen in der Tat fatal, aber selbst wenn man unterstellt, daß es ihm gezielt darum geht, die bedrohliche Praxis der Gen-Industrie philosophisch abzusegnen - der „tödliche“ philosophische Liberalismus ist der „lebensfreundlichen“ Diktatur der Dummheit, die an der Rampe steht und Gedanken selektiert, allemal vorzuziehen. Wie sieht den unser kategorischer Imperativ in Fragen der Ethik, der Abtreibung und der Sterbehilfe aus? Ist die aktuelle Praxis moralisch so einwandfrei, daß darüber nicht mehr diskutiert werden muß? Wenn ich ein Recht auf Tod ebenso habe wie ein Recht auf Leben, wer gewährt mir dieses Recht, wenn ich es selbst nicht kann? Niemand hätte etwas dagegen, diese Entscheidung (ebenso wie die Anwedung der Gen-Technik zur „Verbesserung des Menschengeschlechts“) in die Hände einer unumschränkt weisen Herrscherin zu legen - müssen wir, weil es eine solche Instanz nicht gibt, diese Entscheidung zum Tabu erklären? Wenn ja, welche lebensbedrohlichen Techniken und Praktiken müßten dann ebenfalls tabuisiert werden? Kann auf diese Fragen nach dem simplen Motto „Eure Rede sei Ja Ja Nein Nein. Was darüber ist, ist vom Übel“ geantwortet werden?

In der Phänomenologie des Geistes empfiehlt Hegel den Regierungen, die bürgerliche Welt „von Zeit zu Zeit durch Kriege zu erschüttern, ihre sich zurechtgemachte Ordnung und Recht der Selbstständigkeit dadurch zu verletzen und zu verwirren, den Individuen aber ... in jener auferlegten Arbeit ihren Herren, den Tod, zu fühlen zu geben“. Damit liefert der Philosoph fraglos ethische Grundlagen, auf der Militär- und Kriegspolitik öffentliche Akzeptanz gewinnt, seine Thesen sind heute in keinem, aber auch gar keinem Zusammenhang diskutierbar. Es ließen sich hundert weitere Beispiele zitieren, von Plato bis zur Postmoderne, mit ähnlich skandalösen, „menschenverachtenden“ Thesen. Einige davon hat man im Namen Gottes, der Menschheit, des Vaterlands in der Vergangenheit dadurch bekämpft, daß man Urheber und Anhänger dem Scheiterhaufen übergab.

Das hat Singer, dessen jüdische Familie zu den Opfern des Nationalsozialismus zählte, nicht mehr zu befürchten, man hat ihn nur am Reden gehindert und Seminare über seine Ethik gesprengt. Daß dies ausgerechnet in Deutschland geschah, wundert nicht. Es komme niemand mit den Anfängen, denen die gebrannten Kinder eben besonders sensibel wehren - gegen Bücher wehrt man sich nicht, indem man Diskussionen darüber verhindert (und gegen Täter am wenigsten, indem man sie zum Opfer aufwertet). Es ist die ideologische Blockwart -Mentalität, ebenso felsenfest und steindumm wie ehedem, nur eben jetzt streng anti-fa und 150prozentig menschelnd, die alles, was nicht ins simple Weltbild paßt, verbieten will.

Es fragt sich, was gefährlicher ist: eine moralische These, die ähnlich bei jeder halbwegs ernsthaften Diskussion über die Ethik der Abtreibung und der Sterbehilfe entschieden werden muß (wo sind Anfang und Ende des Lebens?) - oder der Fanatismus geistiger Hygiene-Kommandos, die mit dem humanen Holzhammer von der „Gleichheit aller Menschen in ihrer Differenz“ die Freiheit der Gedanken in ihrer Differenz eiskalt in Frage stellen. Die Gebrauchtwagen-Frage - wem ich nach einem Unfall als schwachsinniger Krüppel lieber in die Hände fallen möchte - kann ich leicht entscheiden: es wären die Leute, die ein Semester über Singer diskutiert haben. Schon mit intaktem Hirn und Körper erweist sich nur zu oft der Nachteil, geboren zu sein.

Mathias Bröckers