: Es gibt kein Zurück
■ Die Fabrikarbeit verändert das Leben der Frauen in Malaysia / Mit niedrigen Löhnen und durch die Einschränkung von Gewerkschaftsarbeit hat die malaysische Regierung vor allem ausländische Elektronikkonzerne als Investoren gewonnen Bis zu achtzig Prozent der in diesen Fabriken Beschäftigten sind Frauen aus der malaiischen Landbevölkerung
Margaret Scott
Schon um zwei Uhr nachmittags beginnt die Zeremonie: Die Frauen ziehen sich um, bevor sie zur Nachtschicht gehen. Zu zwölft leben sie zusammen in einem Haus am Rande von Bayan Lepas, der Freihandelszone von Penang. Hier bekommt man einen genauen Einblick in die Lebensumstände der Fabrikarbeiterinnen - es ist unübersehbar, daß sich die Welt der Frauen in Malaysia, vor allem für die Malaiinnen, in den letzten 15 Jahren grundlegend gewandelt hat.
Zumeist sind es junge malaiische Frauen, die vom Dorf in die Stadt kommen, um in der Fabrik zu arbeiten. Die 23jährige Esah F. lebt mit weiteren elf Arbeiterinnen zusammen. Mit 17 hat sie ihr Dorf im Staat Trengganu verlassen. Seit langem sind überall in den Textil- und Elektronikbetrieben, von Penang bis Kuala Lumpur und Malakka, über 120.000 Arbeiterinnen beschäftigt. Die Welt, die ihre Mütter kannten, existiert für diese Frauen nicht mehr. Sie wohnen nun in der Stadt, und ihr Leben ist bestimmt durch die Schichtarbeit und die Lohntüte. Sie gehören zu dem großen Heer von billigen Arbeitskräften, das in Malaysia den Prozeß der Industrialisierung trägt. Drastische soziale und ethnische Umschichtungen sind Teil dieser Entwicklung.
Traditionell waren die Städte die Domäne der Chinesen in Malaysia, die Landbevölkerung bestand aus Malaien. Seit 20 Jahren versucht die Regierung, diese Verhältnisse umzukehren: Ihr Programm der „Neuen Ökonomischen Politik“ hat unter anderem dafür gesorgt, daß es heute Arbeiterinnen gibt, die in den Industriegebieten leben.
Arabischer Stil
oder städtischer Chic?
Esah F. wirft die 'Vogue'-Nummer, in der sie geblättert hatte, unter den Fernseher - sie zieht die Shorts und das T -Shirt aus und streift das Baja Kurung über, ein zweiteiliges langes Kleid. „Ich stelle mir gern vor, ich wäre so ein Fotomodell“, sagt sie, „aber ich bin Moslemin in den Sachen da könnte ich nie auf die Straße gehen.“
Im Stockwerk drüber ist gerade die 17jährige Hasnah P. eingezogen. Sie erzählt, warum sie aus ihrem Heimatdorf im Staat Perak geflohen ist. Während sie ihre engen modischen Jeans anzieht, macht sie mir klar, daß sie lieber in der Elektronikfabrik an der Maschine steht, als in irgendeinem kampong zu verblöden.
Zu sechst schlafen sie in einem drei mal vier Meter großen Raum. In einer Ecke dieses Zimmers sitzt Rohanna S. vor einem gesprungenen Spiegel. Sie dreht die langen braunen Haare zu kunstvollen Locken, steckt eine reich verzierte goldene Spange hinein und bedeckt das ganze dann mit einem dunklen Schleier. Im arabischen Stil oder städtisch chic sind sie dann schließlich alle für eine weitere Nachtschicht im Industriegebiet gerüstet.
Malaysia hat es wie Singapur, Südkorea oder Taiwan gemacht: Die moderne Fertigungsindustrie soll den wirtschaftlichen Aufschwung garantieren. Aber die malaysische Variante des Wirtschaftswunders weist eine Besonderheit auf: Hier spielen Frauen die entscheidende Rolle. Von Halbleitern bis zu Fernsehapparaten werden in Malaysia vor allem Produkte der Elektronikindustrie hergestellt. 85.000 Arbeitsplätze sind allein in dieser Branche geschaffen worden. Und 80 Prozent der Arbeitskräfte sind Frauen - weil man ihnen eben besondere Fingerfertigkeit nachsagt und weil man sie für besonders arbeitswillig hält. 70 Prozent dieser Arbeiterinnen sind Malaiinnen. Somit spielen die Unternehmen der Elektronikindustrie eine Schlüsselrolle im sozialen Wandel: Die Fabriken sind der entscheidende Faktor bei der Abwanderung vom Dorf in die Stadt. Und zum ersten Mal verdienen Frauen Geld - oft sind sie nun die „Ernährer“ ihrer Familie, die noch im Dorf, dem kampong, lebt.
Mit dem Fahrrad in die Fabrik
Die Fabrikarbeit hat die soziale Stellung, das Selbstverständnis und die Zukunftsaussichten der Malaiinnen stärker gewandelt, als alle anderen Entwicklungen seit der Gründung des Staates Malaysia - so sieht es Ungku Aziz, der bis vor kurzem Vizepräsident der Universität von Malaya war. Er betreut eine Gruppe von Wissenschaftlern, die sich mit dem Leben der Fabrikarbeiterinnen befaßt. Die wichtigsten Voraussetzungen für Freiheit und persönliches Fortkommen seien Bildung und Mobilität, doziert der bärtige Professor Malaysia habe den Frauen beides ermöglicht. „Für die jungen Frauen in Malaysia, vor allem für die Malaiinnen, war es das Fahrrad, das ihnen die Freiheit gebracht hat. Wer beweglich ist, kann seinen Erfahrungshorizont erweitern. Mit dem Fahrrad haben sie Mobilität und Selbständigkeit gewonnen, das war der Anfang des Wegs, der sie in die Fabriken geführt hat.“
Ungku Aziz zeichnet ein helles, freundliches Bild. Haben es die Frauen in den sauberen, klimatisierten Fabrikhallen nicht besser als bei der traditionellen Frauenarbeit: Gummi zapfen vor Tagesanbruch, Fische ausnehmen in der Nachmittagshitze oder den ganzen Tag mit krummem Rücken bei der Tabakernte? Und selbst wenn sie für diese Tätigkeiten bezahlt würden - das monatliche Anfangsgehalt für den üblichen Job als Arbeiterin am Fließband in der Elektronikindustrie liegt mit 250 Malaysia-Dollars (etwa 160 DM) weit über dem, was sie sonst bekommen könnten. Außerdem, meint Ungku Aziz, geht es ja nicht nur ums Geld: Die Frauen genießen Selbständigkeit und Bewegungsfreiheit, alles, was die Stadt bietet, steht ihnen offen.
Rivalisierende Zukunftsvisionen
Es ist die Welt, in der Esah F. lebt, die hier gezeichnet wird, ihr Alltag in der Freihandelszone - aber sie erscheint als säkulare Zukunftsvision. Diesen Traum träumt auch Malaysias Premierminister Datuk Seri Mahatir Mohamad. Er setzt auf die Fertigungsindustrie und hofft, daß sie zur Entstehung einer städtischen Mittelschicht von Malaien beiträgt. Bei nüchterner Betrachtung zeigt sich, daß in diesen Zukunftsplänen die billigen und folgsamen Arbeiterinnen vom Dorf eine entscheidende Rolle spielen. Es sind diese Frauen, die als Arbeitskräfte wie als Konsumentinnen für Modernität und Urbanität einstehen sollen.
Auch Ungku Aziz muß zugeben, daß seine strahlende Zukunftsvision sich in jüngster Zeit etwas verdüstert hat: Zum einen ist da die kleine, aber zunehmende Zahl von Arbeitern, die mit den Arbeitsbedingungen und dem Lohn nicht mehr einverstanden sind und die Meinungsmache gegen die Gründung eines Nationalen Gewerkschaftsbundes satt haben. Aber noch etwas anderes stört das Bild. Es gibt ja auch einen Gegenentwurf für die Zukunft Malaysias und für die Rolle der malaiischen Frauen: eine religiöse Zukunftsvision.
Die gläubigen Verfechter einer Erneuerung des Islam träumen von einem islamischen Staat, für sie ist Ungku Aziz‘ und Mahatirs Programm eines säkularen Malaysia, mit malaiischen Millionären und Fabrikarbeitern, die in die Mittelschicht aufstreben, ein Ärgernis. Viele Frauen tragen wieder den Schleier, Zeichen ihrer Zugehörigkeit zur dakwah -Bewegung, die dem Islam neue Gläubige zuführen soll. Für sie ist ein guter Malaie selbstverständlich auch ein guter Moslem - nur nach materiellen Werten zu streben, ist ihnen nicht genug.
„Minah Karan“ oder Schleier?
Die Fabrikarbeiterinnen sitzen dabei zwischen allen Stühlen. Im Volksmund werden sie Minah Karan genannt, was ungefähr so viel heißt wie „Prachtstück“. Der etwas anzügliche Spitznahme kam nach 1972 auf, als immer mehr Betriebe der Elektronikindustrie entstanden. Inzwischen sieht sich Minah Karan aber mit dem Schleier konfrontiert. In den siebziger Jahren war an den Universitäten die dakwah-Bewegung gegründet worden, die Hochschulabsolventen trugen diese neue Religiosität dann in die bürokratischen Institutionen. In stark veränderter Form hat die Bewegung inzwischen auch in der Fabrikarbeiterschaft Anhänger gefunden. Wie die Studentinnen an Malaysias Universitäten müssen nun auch die Fabrikarbeiterinnen Farbe bekennen: Minah Karan oder Schleier?
Ob in Malakka, Kuala Lumpur oder Penang - in den Gesprächen mit Fabrikarbeiterinnen wird immer wieder deutlich, wie verunsichert und unentschieden sie sind. Sie müssen mit den typischen Problemen fertigwerden, die sich ergeben, wenn eine Gesellschaft einen rapiden Prozeß der Industrialisierung und des sozialen Wandels durchmacht. Die Frage, wie man sich die moderne Malaiin vorzustellen habe, ist ein wichtiger Streitpunkt in den Auseinandersetzungen um die Rolle des Islam in Malaysia. Vielen Arbeiterinnen geht es wie Esah F. und ihren Mitbewohnerinnen: Sie finden dieses Tauziehen sehr anstrengend. Die Kleidung wird dabei zum Symbol. Die Frauen kostümieren sich, oft sind sie geradezu verkleidet. Ihre Neigung zum großstädtischen Chic - von der Begeisterung für 'Vogue‘ bis zum „Max Factor„-Make-up - ist unvereinbar mit den traditionellen malaiischen Vorstellungen von Sitte und Anstand. Sie träumen von persönlicher Freiheit und finanzieller Unabhängigkeit, aber dann haben sie das Gefühl, ihre Traditionen zu verraten und bekommen ein schlechtes Gewissen.
Die MalaiInnen bleiben unter sich
Die Freihandelszone von Bayan Lepas und die angrenzende Neubausiedlung Bayan Baru sind ein Paradebeispiel für die neue städtische Lebensart der Malaien. In dem weitläufigen Industriegebiet am Flughafen von Penang stehen schmucklose Fabrikhallen aus Fertigbauteilen, die alle so aussehen, als seien sie eben erst hingestellt worden. Aber jeder Bau, als habe man die Unnatürlichkeit kaschieren wollen, ist umgeben von einer kunstvoll gestalteten Anlage aus Rasenflächen und Hibiskussträuchern. Natürlich handelt es sich nur um ausländische Firmen.
Die ArbeiterInnen leben in einer eigenen Welt - die Siedlung, die sich an das Industriegebiet anschließt, besteht aus endlosen Fluchten von Reihenhäusern, ab und an steht ein unansehnliches Ladenzentrum aus Fertigbeton dazwischen. Man sieht wenige Inder, noch weniger Chinesen. Hier leben vorwiegend Malaien - auch wenn sie vom Dorf in die Stadt ziehen, bleiben sie unter sich. Die kulturellen Schranken zwischen den ethnien sind offenbar unüberwindlich.
In einer dieser Straßen, die alle gleich ausehen, steht auch das Haus von Esah F. Vor sechs Jahren ist sie hierhergezogen, und sobald sie es sich leisten konnte, hat sie das Fahrrad, das Ungku Aziz für so wichtig hält, mit dem Motorrad vertauscht. Aber nach Georgetown, der größten Stadt von Penang, fährt sie nur selten, obwohl es nur etwa fünf Kilometer sind. „Da ist alles chinesisch“, sagt sie, „dort leben nur Chinesen.“ Es stimmt, Georgetown ist eine Chinesenstadt. Die Organisationen der Familienclans, die buddhistischen Tempel, Restaurants und Geschäfte - man könnte meinen, die Stadt sei komplett aus Südchina importiert. „Wo soll ich denn essen gehen? Ich mag chinesisches Essen nicht. Aber manchmal gehe ich sonntags in die Einkaufspassage.“
Am Sonntag sieht man auch Malaien in Georgetown, vor allem am Komptar Tower, dem Ladenzentrum von Penang. Junge Leute sitzen in Gruppen auf den Bänken im riesigen überdachten Atrium oder draußen auf dem Platz. Gelegentlich sitzen auch junge Männer und Frauen zusammen, doch meist sind es Gruppen von jugen Frauen - die Minah Karans in Jeans und T-Shirt und daneben die dakwah-Frauen in den langen Gewändern.
Eine der Frauen im langen Kleid erzählt, daß sie zwar gerne herkommt, aber eigentlich doch lieber in Bayan Baru ist; dort fühlt sie sich zu Hause. Siedlungen wie Bayan Baru sind für viele der Bewohner inzwischen zu einer neuen Heimat geworden.
Das Werben um ausländische
Investoren
Für die Regierung war, nach den Rassenunruhen von 1969, die neue Industriebranche, in der die Malaien Arbeit fanden, ein Geschenk des Himmels. Zu den Zielen der „Neuen Ökonomischen Politik“ gehörte es, eine Schicht malaiischer Stadtbevölkerung zu schaffen. Am Beginn der siebziger Jahre paßte diese Idee gut in die Pläne großer Unternehmen wie Motorola, Texas Instruments oder Sanyo. Die Firmen suchten Standorte im Ausland, wo billige qualifizierte Arbeitskräfte vorhanden waren und die politischen Verhältnisse keine kämpferische Gewerkschaftsbewegung aufkommen ließen.
Die Zusammenarbeit funktionierte bestens. Die Regierung erklärte die Elektronikbranche zur Schlüsselindustrie damit waren Gewerkschaften verboten. Außerdem wurde eine Ausnahmeregelung beschlossen, die es den Unternehmen erlaubte, das gesetzliche Verbot von Frauenarbeit zwischen 22 Uhr und fünf Uhr zu umgehen. Daraufhin kamen ausländische Investoren in Scharen. 1988 betrug das Ausfuhrvolumen der Elektronikindustrie 14,7 Milliarden Malaysia-Dollars, 56 Prozent des gesamten Exports von Industriegütern. Die Elektronikfirmen haben Malaysia zum weltweit drittgrößten Herstellungsland und zur größten Exportnation von Halbleiter -Bauelementen gemacht; auch in der Produktion von elektronischen Geräten gehört Malaysia zu den führenden Ländern.
Seit Anfang 1987 sind die Produkte der Elektronikindustrie der wichtigste Posten im Außenhandelseinkommen - zuvor war es der Erdölexport. Jetzt kommen Firmen aus Taiwan und Hongkong ins Land: ein neuer Expansionsschub. Im Zehnjahresplan für die industrielle Entwicklung (1985 bis 1995) gilt die Elektronikindustrie als Motor des exportorientierten Wirtschaftswachstums.
Was Malaysia für diese Branche so attraktiv macht, sind nicht zuletzt die niedrigen Lohnkosten. In den achtziger Jahren lagen die jährlichen Wachstumsraten in der Elektronikindustrie zwischen 17 und 20 Prozent - die Lohnerhöhungen betrugen aber nur drei bis zehn Prozent. 1985 erhielten die ArbeiterInnen in Malaysia einen durchschnittlichen Stundenlohn von etwa 1,70 DM. Das Lohnniveau in Singapur war damals etwa 2,70 DM, in Hongkong 2,30 DM, in Südkorea zwei DM, auf den Philippinen eine DM, in Thailand 0,70 DM und in Indonesien 0,60 DM.
Der Fluch der Modernisierung
Eine Zeitlang gab es ungewöhnlich viele Fälle von sogenannter „Massenhysterie“ in den Fabriken. Eine Frau verfiel in Schreikrämpfe, andere schlossen sich an, bis dann oft die ganze weibliche Belegschaft in diesem Zustand war. Häufig behaupteten die Frauen, von einem bösen Geist besessen zu sein, und solch ein Fluch konnte auch die Schließung der Fabrik zur Folge haben. Man holte die Bomoh, alte Männer aus den Dörfern, die sich mit den Geistern und den übernatürlichen Kräften auskannten. Die hysterischen Frauen wurden mit Gebeten und Läuterungsritualen traktiert.
Heute kommt diese Form von Hysterie vor allem in Mädcheninternaten vor, aber es gibt auch noch vereinzelte Fälle in Fabriken. So ist erst kürzlich, in der neu errichteten Fabrik einer taiwanesischen Firma in Penang, ein solcher Schub von hysterischen Anfällen aufgetreten. Die Arbeiterinnen behaupten, die Fabrik sei auf dem Gelände eines japanischen Kriegsgefangenenlagers errichtet worden. Es gibt keine Belege für diese Behauptung - aber die Frauen glauben, von den Geistern der gefolterten Gefangenen verfolgt zu werden.
Die Folgen der Entwurzelung sind heute nicht mehr so gravierend wie früher. Anfangs gab es ja auch keine Wohnungen, viele ArbeiterInnen waren gezwungen, sich in illegalen Ansiedlungen eine Bleibe zu suchen. Nach wie vor müssen die Firmen nicht für Arbeiterwohnungen sorgen - nur wenige Unternehmen kümmern sich freiwillig um dieses Problem. Und noch immer herrscht Wohnungsnot, alles ist überfüllt. Aber in den letzten fünf Jahren hat sich die Situation deutlich gebessert. Außerdem gibt es jetzt gewisse Erfahrungen im Umgang mit diesen Problemen: Neuankömmlinge werden rasch integriert, und die Eingewöhnung fällt viel leichter.
Die Sorge für die Angehörigen zu Hause spielt eine entscheidende Rolle bei der Anpassung an die neuen Lebensumstände. Je nach Einkommen und persönlichem Pflichtgefühl schicken die Arbeiterinnen aus den Industriezentren monatlich zwischen 50 und 100 Malaysia -Dollars nach Hause. Es gibt keine verläßlichen Statistiken, aber aus einzelnen Forschungsergebnissen und persönlichen Gesprächen kann man schließen, daß die Fabrikarbeiterinnen in zunehmendem Maße die Rolle des „Ernährers der Familie“ übernehmen. Esah F. und ihre Schwester, die auch in der Fabrik arbeitet, versorgen die ganze Familie. Der Vater war Fischer, aber nun ist er alt und krank und kann nicht mehr arbeiten. Außer den Eltern leben noch vier Geschwister in dem Dorf in Trengganu.
Hire and fire
Am Beispiel von Esah F. und ihrer Schwester zeigt sich die stille Umwälzung, die sich durch die Abwanderung aus den kleinen Bauernhöfen und den Gummiplantagen vollzogen hat. 1970 lebten noch 61 Prozent der MalaiInnen auf dem Land und arbeiteten in der Landwirtschft - 1980 waren es nur noch 46 Prozent. Die Prognosen bis 1985 bestätigten diesen Trend. Auch in der Statistik über die Frauenarbeit werden die Folgen von Landflucht und neuen Arbeitsplätzen deutlich: 1957 betrug der Anteil der Frauen in der Arbeiterschaft nur 24,2 Prozent - 1985 waren es schon fast 50 Prozent.
Aber sie haben es nicht leicht. Es gibt keinen Kündigungsschutz, und in der Regel werden immer die ArbeiterInnen entlassen, die am längsten in der Firma arbeiten, also auch am meisten verdienen. Wer einen neuen Arbeitsplatz findet, muß dann wieder mit dem Grundlohn zufrieden sein. Eine Altersversorgung gibt es nicht. Aber das Schlimmste sind die Maßnahmen zum „Personalabbau“: Während der wirtschaftlichen Rezession von 1984 bis 1985 sind im Rahmen solcher Strategien in der Elektronikbranche 30.000 Arbeitskräfte entlassen worden.
Die entscheidende Veränderung in der Elektronikindustrie war natürlich die Automation. Früher gab es die sogenannten „Mikro-Jobs“ - in der Regel waren die Arbeiterinnen damit beschäftigt, feine Drähtchen durch ein Mikroskop zu betrachten und sie mit ihren ach so geschickten Fingern an der richtigen Stelle in einen Chip zu stecken. Damit ist es nun vorbei - inzwischen sind die Bauelemente so winzig, daß mit den Fingern einfach nichts mehr auszurichten ist. Computergesteuerte Maschinen haben diese Arbeit übernommen. Und die Arbeiterinnen schauen jetzt nicht mehr durchs Mikroskop, sondern auf einen Bildschirm, der anzeigt, ob die computergesteuerten Maschinen fehlerfrei arbeiten.
1975 produzierte eine Bandarbeiterin bei Texas Instruments 40 Einheiten in der Stunde - eine Einheit ist ein Teil eines elektronischen Bauelements. Heute 1989, schafft eine Arbeiterin 40.000 Einheiten pro Stunde. Bei solchen Fortschritten in der automatischen Fertigung werden die Unternehmen ihre Belegschaft nur halten, wenn zugleich die Absatzmöglichkeiten drastisch steigen. Doch selbst dann dürften eher Ingenieure und ausgebildete Techniker gefragt sein als einfache Arbeitskräfte. Jerry Lee, der Leiter der Fabrik von Texas Instruments im Industriegebiet Ulu Klang bei Kuala Lumpur erklärt, daß es in seiner Firma keine Weiterbildungsprogramme für Bandarbeiterinnen gibt. Die Frauen können sich also keine Hoffnungen machen, in qualifiziertere Stellungen übernommen zu werden.
Vorübergehende Lohnarbeit
lebenslang
80 Prozent der Beschäftigten in Jerry Lees Fabrik sind Frauen. Im Durchschnitt arbeiten sie seit acht Jahren in diesem Betrieb, die Hälfte ist verheiratet. Frauen werden allmählich zu einem festen Bestandteil der Arbeiterschaft eine Tatsache, die noch nicht recht begriffen wird. Auch die Arbeiterinnen selbst erklären zumeist, sie wollten den Job in einem Industriegebiet nur vorübergehend ausüben. Es gibt Untersuchungen, die besagen, daß manche dieser Arbeiterinnen nicht heiraten, weil sie ihre Familie zu Hause ernähren müssen. Die meisten heiraten natürlich - allerdings später als die jungen Frauen auf dem Land, und dann sind die Ehemänner oft Arbeitskollegen oder auch Polizisten oder Soldaten. Und immer häufiger bleiben die Frauen auch nach der Heirat berufstätig. Es zeigt sich also ein Trend zur ständigen Berufstätigkeit, aber zugleich scheint die Religion für die Arbeiterinnen immer wichtiger zu werden.
Natürlich liegt die Hinwendung zur Religion, die in den Industriesiedlungen zu beobachten ist, im allgemeinen Trend. Die Kritiker sagen: Das wird die Malaiinnen nur noch weiter isolieren. Oder: Das führt dazu, daß sich die Frauen nicht als Arbeiterinnen begreifen.
Vielleicht muß man die Erfolge der dakwah-Bewegung bei den Fabrikarbeiterinnen auch als Reaktion auf die Perspektive ständiger Berufstätigkeit verstehen - wenn die Frauen in der Fremde eine neue Heimat finden sollen, brauchen sie auch einen neuen Lebenssinn.
Gut 30 Prozent der Frauen tragen jetzt den tudung, den Schleier. Viele sind der Ansicht, daß eine rechtgläubige Moslemin vor allem Ehefrau und Mutter sein müsse - eine schwierige Maxime für Frauen, die meist auch nach der Heirat arbeiten gehen müssen. Unter den zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen über die Arbeiterschaft gibt es nur wenige, die genauer betrachten, welche Veränderungen die Fabrikarbeit in Ehe und Familie bewirkt. In der Regel zählt eine Arbeiterfamilie nicht so viele Mitglieder wie der typische Familienhaushalt auf dem Land. Wenn ältere Arbeiterinnen mit ihren Kindern nicht mehr in der Großfamilie leben, stellt sich natürlich auch die Frage, wer sich um die Kinder kümmern soll - weder der Staat noch die Unternehmen sorgen für Kindergärten oder ähnliche Einrichtungen.
Der erste Konflikt um die
Zulassung einer Gewerkschaft
Ein beliebtes Forschungsthema ist dagegen die Frage nach dem Selbstverständnis dieser neuen Arbeiterschicht, dem Arbeiterbewußtsein, wie die Soziologen es gerne bezeichnen. Nach allgemeiner Auffassung unterscheidet sich Malaysia in dieser Hinsicht von anderen Ländern, die einen Industrialisierungsprozeß durchmachen. Das liegt zum einen an dem Nebeneinander verschiedener Ethnien in Malaysia, zum anderen, jedenfalls in der Elektronikindustrie, an der staatlichen Behinderung der Gewerkschaftsarbeit.
Im September 1988 hatte der damalige Arbeitsminister erklärt, man werde nun die Gründung einer Gewerkschaft zulassen, aber einige Wochen später hieß es, nur Hausgewerkschaften in den einzelnen Betrieben seien erlaubt. Damit waren auch die Frauen erstmals mit der Gewerkschaftsfrage konfrontiert. Die Reaktionen sind unterschiedlich. In einigen Studien über Arbeiterinnen wird die Ansicht vertreten, die zunehmende Religiosität behindere die Gewerkschaftsarbeit.
Bislang ist nur in einer Fabrik der Versuch unternommen worden, eine Gewerkschaft zu gründen. Die Firmenleitung will das mit allen Mitteln verhindern. Seit Februar 1989 geht diese Auseinandersetzung, inzwischen herrscht eine Patt -Situation. Ein Vorarbeiter hatte mit der Gewerkschaftsarbeit bei RCA im Industriegebiet Ulu Klang begonnen, aber nach und nach engagierten sich auch einige Frauen. Als bereits über die Hälfte der Belegschaft beigetreten war, weigerte sich die Betriebsleitung, die Gewerkschaft anzuerkennen - mit der Begründung, das Unternehmen habe inzwischen einen neuen Eigentümer, die Firma Harris Solid State. Der Konflikt ist noch nicht beendet.
„Es sieht nicht gut aus
für die Frauen“
Rohani Hussainsa findet, daß die Frauen mehr brauchen, als die sicheren Arbeitsplätze, die ihnen die Gewerkschaft vielleicht erkämpfen könnte. Sie bezeichnet sich als Versuchskaninchen der „Neuen Ökonomischen Politik“. Mit 17 hat sie in der Fabrik angefangen, als eine der ersten Arbeiterinnen in Penang. 1985 bekam sie die Auswirkungen der Rezession zu spüren: Sie gehörte zu den 1.700 Arbeiterinnen, die bei Mostek entlassen wurden. Jetzt ist sie 38 und hat sieben Kinder. „Letztlich sieht es hier für die Frauen nicht gut aus“, meint sie, „jahrelang arbeiten sie für das bißchen Lohn, sie werden nicht weiter ausgebildet - und was haben sie am Ende schon davon gehabt? Wir alle haben erlebt, wie wir uns allmählich verändern... Wir amüsieren uns, gehen auf Partys, nehmen immer mehr westliche Sitten an. Den Eltern gefällt das nicht, aber sie sagen nichts, weil die Töchter ihnen ja Geld schicken.“
Rohani Hussainsa glaubt, daß der neuen Welt vor allem eine neue Moral, eine neue Wertordnung fehlt, in der Minah Karan und der Schleier keine Gegensätze mehr sind. Mit Hilfe einer niederländischen Stiftung hat sie eine „Arbeiterinnen-Initiative“ gegründet, ein Zentrum, in dem die Frauen etwas lernen können: Es soll Englischkurse geben, Kurse im Schneidern und Maschinenschreiben. Und außerdem soll das Selbstbewußtsein und die Moral gestärkt werden. Doch bislang sieht es in den Räumen noch leer und trostlos aus. Nach der Schicht kommen ein paar Arbeiterinnen vorbei und unterhalten sich - rasch sind sie bei der Frage, ob es sich gelohnt habe, aus dem Dorf wegzugehen.
Alle sind der Meinung daß es richtig war. Nur Hasnah R., eine zierliche Frau mit kurzgeschnittenen Haaren, widerspricht: „Manchmal wünsche ich mir, ich wäre zu Hause geblieben.“ Vor zwölf Jahren hat sie sich davongemacht aus ihrem kleinen Dorf nördlich von Kroh, in Perak - gegen den Willen ihrer Eltern. In den ersten Jahren gefiel es ihr gut. Dann lernte sie einen Vorarbeiter aus ihrer Fabrik kennen und ging öfter mit ihm aus. „Das haben hier viele so gemacht“, sagt sie, „aber ich habe mich verliebt - und er war doch Chinese!“ Sie wurden standesamtlich getraut, aber er hatte versprochen, zum Islam überzutreten. Weil er sein Versprechen nicht hielt, hat sie ihn verlassen. „Jetzt lebe ich in Schande“, sagt sie und beginnt zu weinen.
In diesem Moment kommen zwei junge Frauen herein. Sie haben sich, in kleinen Plastiktüten, etwas zu essen mitgebracht und sind laut und fröhlich. Hussainsa will wissen, ob es ihnen in Penang gefällt. „Na klar!“ sagt die eine der beiden. „Ich verdiene Geld und kann tun, was ich will.“ Hasnah lacht. „Genau das hätte ich vor zwölf Jahren auch gesagt. Wer einmal weggegangen ist, kann eben nicht mehr zurück.“
Übersetzung: Edgar Peinelt
taz lesen kann jede:r
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