Nulltarif

Zu den Nullaussagen über die Kosten der Einheit  ■ K OM M E N T A R

Nachdem der Ruf „Deutschland einig Vaterland“ auch im Kreml auf offene Ohren gestoßen ist und Gorbatschow den Anschluß genehmigt hat, kann die Parole des Deutschen November langsam in die Geschichtsbücher wandern - von der bekannt hartherzigen „Eisernen Lady“ einmal abgesehen, muß in Europa niemand mehr überzeugt werden. Der Spruch mag künftig noch auf der einen oder anderen Montagsdemo zu sehen und zu hören sein, doch liegt das eher am mangelnden Nachschub aktualisierter Transparente, im Prinzip ist die Einheit perfekt. So hat sich denn auch längst eine neue Parole herausgeschält, nicht auf der Straße, sondern in den Regierungsstuben, von wo aus sie mit Macht in die Medien eingesickert ist, kein Politiker-Statement, kein Interview, kein Leitartikel, in dem sie nicht mindestens einmal fällt: „Einheit gibt's nicht zum Nulltarif!“

Nun weiß schon jedes Kind, daß es zum Nulltarif nur eins gibt: überhaupt nichts; warum sollte also ausgerechnet das Großprojekt „Deutsche Einheit“ gratis, umsonst, völlig kostenlos sein? Die neue Einheitsparole ist eine Nullaussage, wie sie leerer nicht sein könnte, und doch hat sie Aussichten auf weitere Karriere: Es ist Wahlkampfzeit, und da kann keine der Schönheitsköniginnen riskieren, das Volk mit häßlichen Zahlen zu verprellen. Es sieht ja schon genug: in den Schlangen bei Arbeits- und Wohnungsämtern, im Grenzstau von 2.000 Übersiedlern pro Tag, an allen Ecken und Enden. So könnte es allenfalls sein, daß die Hohlformel in den nächsten Wochen der Lage etwas angepaßt wird: Einheit gibt's nicht zum Discountpreis, nicht als Sonderangebot, nicht zum Spartarif... Aber niemand wird die Kosten nennen, die natürlich nicht die großen Unternehmen, sondern die kleinen Leute zu bezahlen haben. Ginge es um Wirtschaftshilfe für die DDR, ließe sich der Kreditbedarf ziemlich genau beziffern, aber es geht um Einheit, und da ist es mit Rückzahlung der Reparationsschulden und einem großzügigen Marshall-Plan nicht getan.

Um es in der beliebten Bauherrenmetapher auszudrücken: Die Renovierung des vergammelten Ostflügels wäre billiger, als eine gesamtdeutsche Großwohnung zu bauen, die ja ohnehin demnächst in der europäischen Hausgemeinschaft aufgehen soll. „Nicht zum Nulltarif“ heißt also nichts anderes, als für ein deutsch-deutsches Luxusappartement Geld aus dem Fenster zu schmeißen (während nebenan, in Polen, Ungarn, der CSSR nicht mal die Dächer gedeckt sind) - und eben deswegen drucksen die nationalen Häuslebauer sich um die Kosten herum. Und legen es darauf an, mit Hinhaltetaktik und Berichten über die akute Einsturzgefahr der DDR den Ostflügel soweit zu ruinieren, daß an Renovierung nicht mehr zu denken ist. Sollte trotz des Hammelsprungs der Übersiedler die Luxusmodernisierung „Einheit“ tatsächlich noch einmal zur Wahl, zur Volksabstimmung gestellt werden, muß die Alternative klar sein: Die ökonomische Krise der DDR läßt sich ohne Einheit und in guter Nachbarschaftshilfe weit kostengünstiger lösen. Der Übersiedlerstrom hört morgen auf, wenn man, als Übergangsmaßnahme, zum Bezug von Arbeitslosen und Sozialhilfe in der DDR wohnen bleiben kann. Das geht nicht zum Nulltarif, aber billiger als Groß-Deutschland ist es allemal.

Mathias Bröckers