Weg vom Katzentisch!

Genscher erläutert Einheitsplan: Deutsche bleiben initiativ, Alliierte verzichten auf ihre Rechte, KSZE-Konferenz nimmt Ergebnisse wohlwollend zur Kenntnis  ■  Aus Ottawa Andreas Zumach

Bundesaußenminister Genscher will nach deutsch-deutschen Verhandlungen über die baldige Einheit deren Ergebnisse den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs und der geplanten KSZE -Konferenz im November nur noch zur wohlwollenden Billigung, nicht mehr zur Abänderung und Entscheidung vorlegen. Die Siegermächte sollen bereits im Frühjahr endgültig auf ihre Rechte verzichten. Dies geht aus Äußerungen des Ministers Journalisten gegenüber auf dem Flug nach Ottawa hervor.

Formeln wie 4 plus 2, 1 plus 3 oder 2 plus 4 und das Wort „Katzentisch“ beherrschten dann den Beginn einer Konferenz, die eigentlich dem Thema vertrauenbildender Maßnahmen durch die Schaffung „offener Himmel“ gewidmet ist. Doch tatsächlich geht es beim ersten Treffen der 23 Außenminister von Nato und Warschauer-Vertrag-Staaten in der kanadischen Hauptstadt Ottawa zunächst um ein anderes Thema: die deutsche Neuvereinigung und deren Bedeutung für die politischen und Sicherheitsinteressen anderer Länder.

Wie die Bonner Koalition sich deren Berücksichtigung vorstellt, erläuterte Genscher mitreisenden Journalisten und am Sonntag abend vor Konferenzbeginn zunächst den drei Westalliierten, dann allen 16 Nato-Außenministern: Bonn und Ost-Berlin nehmen „sofort“ nach Fortsetzung Seite 2

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den DDR-Wahlen am 18.März Verhandlungen über Schritte zur Vereinigung auf und „laden“ dann die vier Siegermächte zu einer Konferenz „ein“ (2 plus 4), auf der diese formell und endgültig auf ihre Rechte verzichten. Die Formel 4 plus 2 beschreibt die von Bonn ungeliebte „Katzentischsituation“ (Genscher) für die Deutschen, in der die vier Siegermächte die Initiative ergreifen und möglicherweise „formale Festlegungen“ über die Zukunft Gesamtdeutschlands treffen. Das Ergebnis der 6er-Beratungen soll dann einem KSZE-Gipfel „im November“ zur wohlwollenden Billigung, nicht jedoch zur formalen

Genehmigung vorgelegt werden. Mit diesem Modell einer „weichen Landung“ (Genscher), so hoffen die Bonner Diplomaten, seien dann auch ein Friedensvertrag mit den 46 ehemaligen Gegnern des Dritten Reiches und damit verbundene „schwierige Rechtskonstruktionen“ sowie Reparationsansprüche endgültig hinfällig.

Bei Gorbatschow und Schewardnadse, berichtete Genscher, seien er und Kanzler Kohl mit diesem Vorschlag nicht auf Widerstand gestoßen. Auch die von seinem US-Amtskollegen Baker zum „Genscherplan“ stilisierte Formel von der Nato -Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands ohne militärische Ausdehnung des Bündnisses nach Osten habe in Moskau „positive und sehr undogmatische Aufnahme“ gefun

den. Dem widersprach allerdings die vor Beginn des Treffens in Ottawa vorgelegte gemeinsame Erklärung der Warschauer -Pakt-Staaten, nach denen eine Nato-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands unakzeptabel sei. Im Gegenzug verkündete Generalsekretär Wörner für die 16 Nato-Staaten, sie lehnten ein neutrales Deutschland ab.

Hinsichtlich der Präsenz und des Status deutscher Truppen auf dem Ex-DDR-Territorium eines künftigen Gesamtdeutschlands, so hatte Genscher die Moskauer Gespräche weiter erläutert, wurden von keiner Seite klare Vorstellungen auf den Tisch gelegt. Es sei jedoch deutlich geworden, daß die Bundeswehr „das Kernproblem“ der sowjetischen Sicherheitsinteressen bedeute. Genscher erklärte, vor dem

Hintergrund des jetzt ablaufenden Prozesses sei die Stationierung atomarer Kurzstreckenraketen sowie atomarer Artillerie in der Bundesrepublik „politisch mausetot“.

Den USA ist die Art und Weise, wie der deutsche Vereinigungsprozeß vollzogen wird, laut Genscher „weitgehend egal“. Auch von den anderen Nato-Staaten gab es nur „breite Zustimmung“, so ein Genscher-Sprecher. Eventuelle Schwierigkeiten werden noch aus London erwartet, wo Premierministerin Thatcher am Wochenende als Vorbedingung formale Entscheidungen der vier Siegermächte forderte. Genscher konterte dies mit dem Angebot, auf der Rückreise von Ottawa nach Bonn am Mittwoch in London zwischenzulanden und Thatcher die Bonner Planungen per

sönlich zu erläutern.