Für Europa erst die nationalen Fragen lösen

■ Interview mit Michaly Vajda, Philosoph aus Budapest, über Faschismus und Nationalstaat in Deutschland

Michaly Vajda, geb. 1935 in Budapest, Schüler von Agnes Heller, 1977/80 Gastprofessor in Bremen, Philosoph, der Philosophie nicht für eine Wissenschaft hält, sondern für eine Beschäftigung mit dem, „was uns angeht“. Ihn, 1973 als Forscher entlassen, 1989 plötzlich Institutschef in Debrecen, geht z.B. an „Fascism as Mass Movement“ (erschienen 1976) und Martin Heidegger.

taz: Es gibt auf der Linken mächtige Vorbehalte gegen die deutsche Einheit als Rückfall in das entsetzliche Nationalstaatszeitalter.

Vajda: Warum ist das so entsetzlich? Ich bin auch für ein einheitliches Europa und sehr glücklich, wenn Ungarn dazu gehören könnte. Aber das geht nur, wenn man zunächst die nationalen Fragen gelöst hat. Das geht nicht, daß zwei Deutschländer zu Europa gehören, solange die Deutschen das Gefühl haben, - was die Linken hier meinen, das interessiert mich nicht - ja, wir sind ein Volk und wir wollen diese Selbstbestimmung. Wenn es sowas wie deutsche Aggression gibt, dann stammt das davon, daß sie immer verhindert waren, einen eigenen, echten Nationalstaat zustande zu bringen. Wäre die Vereinigung von Deutschland 1871 nicht so falsch gewesen, daß das wichtigste deutsche Land, Österreich, ausgeschlossen war, dann wäre die ganze Geschichte anders gelaufen. Und ich hoffe sehr, daß dieser Aufbruch der DDR es den Deutschen wirklich erlaubt, endlich mal den deutschen Nationalstaat aufzubauen. Und nach zwei Jahren können dann die Deutschen ebenso wie die Engländer, die Franzosen und die Italiener ein friedlicher, demokratischen Teil eines einheitlichen Europas werden.

Sie sind ein Jude aus Budapest, und Sie graust es offensichtlich nicht wie etliche westdeutsche Intellektuelle, denen zum deutschen Nationalstaat nur Großdeutschland und Faschismus einfällt?

Nein, warum? Die Linken haben die schlimmsten Meinungen über die Deutschen und doch einen Begriff, daß das etwas sehr Wichtiges ist. 80 Mill. Engländer zusammen, das ist Demokratie, 80 Mill. Deutsche zusammen, das ist Faschismus. Wieso? Ich, Budapester Jude, würde sagen, das ist kein Nationalcharakter und kein Schicksal, das ist einfach historisch so: Wenn die demokratischen Mächte dieses ganze System der Versailler Friedensverträge nicht gemacht hätten, dann gäbe es keinen Hitler, dann gäbe es keine deutsche Aggression.

Es gibt eine interessante These von David Abraham, daß in der Weimarer Demokratie alle Parteien irgendwelche Partikularitäten repräsentieren. Es gab kein gemeinsames Zukunftsbild, und die Erfahrung von Versailles war nicht zu verarbeiten. Und dann kam Hitler, der in seiner Aggressivität der einzige war, der ein Programm für das ganze Deutschland geben konnte ... Und das hat ihn zur Macht gebracht. Ich bin nicht dafür, irgendwas zu vergessen, wie könnte man Auschwitz vergessen. Wenn jetzt die ganze Welt, bis auf Mrs. Thatcher und die deutsche Linke, den Deutschen erlaubt, ihren Staat einmal zu haben, gleichberechtigt wie die anderen Völker in Europa, dann werden die Deutschen auch ihre Vergangenheit verarbeiten können.

Interview: Uta Stolle