DEN JUDEN EINE STADT...

■ Interview mit Dan Weissman und Zuzana Justman über ihren Dokumentarfilm „Terezin Diary“ - Tagebuch Theresienstadt

Lärmendes Wiedersehen. Mittendrin steht Helga Pollack und sagt auf englisch: „Vor Aufregung hab‘ ich all mein Tschechisch vergessen.“ Tschechisch war nie ihre Sprache gewesen, aber es war die Lagersprache in Theresienstadt, als Helga noch ein Kind war. Über vierzig Jahre später treffen sich die Kinder von Theresienstadt in Prag wieder. Die Kamera bleibt bei Helga: Helga im Bus, lachend, mit den Fingern nach draußen zeigend, Stadtrundfahrt. Helga mitten im Gruppenfoto, Klassentreffen. Helga im Bus, weinend, nur eine Einstellung weiter. Später wird sie in ihrem Hotelzimmer über ihr Leben in Theresienstadt erzählen, ein Stück Normalität. Sie hat Tagebuch geführt, Theater gespielt, über Freundinnen geweint, die mit dem Transport nach Auschwitz fuhren, nicht weil sie wußte, daß dies im Unterschied zu dem Sammellager Theresienstadt ein Vernichtungslager war, sondern so, wie alle Kinder beim Umzug ihrer Freundinnen weinen. Der Amerikaner Dan Weissman läßt in seinem Dokumentarfilm „Terezin Diary“, der im Panorama der Berlinale gezeigt wurde, die Kinder von damals sich erinnern. Ihre Beschreibungen vom Lagerleben, das trotz der Internierungssituation auch ein kulturelles Ghetto war, werden kontrastiert mit dem Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“, den der ebenfalls internierte Schauspieler Kurt Gerron gezwungen war, über Theresienstadt zu drehen, bevor er in Auschwitz ermordet wurde. Widersprüche im Film sind Widersprüche, unter denen die Menschen damals lebten. Dan Weissmans erster Film beschäftigte sich bereits mit dem Schicksal der Juden in der Tschechoslowakei, seine Produzentin Zuzana Justman war selbst in Theresienstadt interniert. Aber es gab auch andere Motivationen.

Dan Weissman: Seit meinem Studium faszinieren mich Propagandafilme. Sie sind eine Art Obsession für mich. Als ich die Möglichkeit hatte, mit diesen Filmen zu arbeiten, mußte ich es einfach tun. Meine Absicht war, dieses Material zu unterlaufen in Form einer Dekonstruktion. Eine Methode war dabei die Zeitlupe, die sich zum Ende des Films steigert, eine andere die Wiederholung. Damit wollte ich Dinge wahrnehmbar machen, die ursprünglich nicht intendiert waren, als der Film gedreht wurde. Wenn die Bilder angehalten werden, sieht man, daß sie Blicke der Furcht, der Angst in die Kamera schicken. In den Gesichtern bleibt etwas zurück, was das ganze Propagandaprojekt Lügen straft.

Ein anderer Grund war aber die Begegnung mit einem Mann, der die Konzentrationslager überlebt hat. Als er über die Kriegsjahre sprach, sagte er einmal - er war von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert worden: „Auschwitz war einfach. Du bist aus dem Zug gestiegen und wußtest, was hier passiert. Aber Theresienstadt“, und es war die Art, wie er Aber Theresienstadt sagte, „das gab mir eine Ahnung davon, wie perfekt organisiert der Betrug in Theresienstadt war, aber auch wie groß der Selbstbetrug dort gewesen sein mußte.“

Zuzana Justman: Nach dem Krieg wollte ich genau wie Helga in dem Film ein normales Leben führen und war nicht im geringsten interessiert, mich damit zu beschäftigen. Ich ging vier Jahre aufs College, und meine Freunde dort waren meine Familie. In dieser Zeit wollte ich nicht darüber sprechen, es war einfach kein Teil meines Lebens. Wenn man älter wird - so geht es mir und vielen anderen - denkt man plötzlich wieder daran und fängt an es aufzuschreiben. Aber jenseits dieser ganz persönlichen Gründe ist das einfach ein faszinierendes Thema. Es sind einige Filme über Theresienstadt gedreht worden, aber sie haben nicht wirklich die Geschichte erzählt. Dieser monströse Propagandafilm Der Führer schenkt den Juden eine Stadt, der so verbrecherisch ist - das größte Verbrechen ist, daß er funktioniert hat, und zwar auf beiden Seiten. Die Öffentlichkeit draußen, zum Beispiel die Rote-Kreuz -Kommission, die zur Inspektion kam, ist darauf hereingefallen. Aber nicht nur das, die Juden selbst wollten betrogen werden. Niemand wollte die schreckliche Wahrheit akzeptieren. Als zwölfjähriges Kind, das ich damals war, glaubte ich fest, daß die Leute draußen wüßten, was in Theresienstadt passiert.

taz: War es schwierig, die Leute dazu zu bringen, sich vor der Kamera zu erinnern?

Weissman: Die meisten waren völlig einverstanden, interviewt zu werden. Dabei kamen allerdings Dinge hoch, die sie selber nicht erwartet hatten. Es gab auch eine Frau, die überhaupt nicht darüber reden konnte.

Justman: Sie ist nicht im Film. Wir hatten so viel Material, 45 Filmstunden, da war es sehr schwer auszuwählen. Jeder der dem Interview zustimmte, wollte den Film so sehr wie wir. Das erste Interview ergab sich unmittelbar nach einem Treffen der Kinder von Theresienstadt in Prag in einem Hotelzimmer. Zwei Jahre später interviewten wir Helga noch einmal. Aber das beste Material kam von diesem ursprünglichen Interview. Da war eine große Unmittelbarkeit der Gefühle, da war alles wieder da, ausgelöst durch das Wiedersehen mit den Freunden von früher.

Helga scheint stets zu lächeln, wenn sie erzählt...

Weissman: Das überrascht viele Leute. Da ist ein großer Unterschied auch zu dem späteren Interview. Aber durch das Wiedersehen erinnerte sich Helga auch an die vielen positiven Erlebnisse der Freundschaft in Theresienstadt. Es gibt Leute, die sagen, wie kann jemand so schauen, wenn er das durchgemacht hat. Als ob sie kein Recht zu lächeln hätte. Es zeigt aber doch vor allem: daß sie überlebt hat.

Theresienstadt war ja, wie der Film belegt, auch gleichzeitig ein Ort kultureller Blüte, die Theaterveranstaltungen wurden von Juden selbst organisiert. Die Kinderoper „Brundibar“ ist viele Male aufgeführt worden. Trotzdem oder gerade deswegen?

Weissman: Das ist die Frage. Wenn man davon ausgeht, daß es zumindest einige Leute gab, die wußten, was nach Theresienstadt kam, oder zumindest sich bewußt waren, daß ihre Zukunft extrem ungewiß war, stellt sich wirklich die Frage, warum sie, damit konfrontiert, sich weiterbildeten, lehrten, sogar Sprachen lernten...

Justman: ...ich lernte Englisch in Theresienstadt. Es gibt verschiedene Sichtweisen auf die Kultur im Lager. Einer der Befragten spricht im Film von der Kultur als Widerstand, geistigem Widerstand. Darüber hat es viele Kontroversen gegeben. Manche fragen, warum haben sich all die Leute in nette Kostüme stecken lassen, warum haben sie nicht stattdessen realen Widerstand organisiert. Sie haben sich doch selber angeschmiert. Das ist eine schwierige Diskussion, aber eines ist sicher. Das kulturelle Leben in Theresienstadt war auch ein Ausdruck der Kultur der Prager jüdischen Gemeinde, die heute nicht mehr existiert. Sie hat die Zeit vor dem Krieg repräsentiert, die eine kulturelle Blütezeit war. All diese Schriftsteller, Maler, Musiker kamen nach Theresienstadt und arbeiteten hier weiter oder unterrichteten die übrigen Lagerinsassen. Auf diese Weise ist der Film auch ein Tribut an diese verlorene jüdische Kultur. Die jüdische Lagerleitung, die ein paar Entscheidungen treffen konnte - natürlich nicht die lebenswichtigen, nämlich wieviele am Leben bleiben - war sich in einer Sache immer einig: Die Kinder zu schützen. Sie glaubte, wenn die Kinder überleben, dann sollten sie nicht nur eine Bildung haben, sondern vor allem Gut und Böse unterscheiden können. Denn auch unter den Lagerinsassen stahlen zum Beispiel manche. Deshalb gab es eine große Übereinstimmung, die Kinder ethisch zu bilden. Die, die überlebt haben, können darüber viel erzählen.

Aber gleichzeitig wurde diese Kultur ja auch von den Nazis benutzt, für Propagandazwecke umgebaut beziehungsweise provoziert, wie „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ zeigt. Wo ist der Punkt, wo der Widerstand zur Lüge wird oder überschneidet sich hier beides?

Weissman: Es überschneidet sich. Teile der eingesetzten Musik, auch der Hintergrundmusik ist von Insassen komponiert. Der Regisseur Kurt Gerron, selbst interniert, wurde gezwungen diesen Film zu machen. Dreimal mußte er das Drehbuch umschreiben, bis es den Nazis genehm war. Und dann wurde in nur achtzehn Tagen, Ende August 1944, gedreht. Man sieht natürlich nur das ganz polierte Bild des kulturellen Lebens. Die Leute sitzen an Tischen, die mit Blumen geschmückt sind, sind hübsch angezogen und andere Verlogenheiten. Tatsächlich tauchte das kulturelle Leben, das vorher nur im Untergrund stattfinden konnte, in dem Maß auf, wie die SS es zuließ. Sie nahm sogar daran teil, auch in Auschwitz besuchte sie Theatervorstellungen im Familienlager, dort waren die Leute, die aus Theresienstadt kamen und privilegiert behandelt wurden. Selbst wenn die Juden längst zur Vernichtung bestimmt waren, sie musizierten und spielten Theater. Das half natürlich auch, den Betrug aufrechtzuerhalten.

Justman: Eine Person aus dem Film trifft es vielleicht am Besten, wenn er es nennt „the freedom of the sentence to death“. Natürlich gab es in den vier Jahren der Geschichte Theresienstadts verschiedene Perioden kultureller Entfaltung. Am Anfang war nichts derartiges möglich. Aber als die Nazis entschieden, Theresienstadt nicht nur als Zwischenstation zu nutzen, sondern auch für Propagandazwecke, liberalisierten sich die Lagerbedingungen. Während dieser „Verschönerung“ verbesserten sich die Lebensumstände radikal. Zuvor hatte man allerdings 7.500 Menschen nach Auschwitz in den Tod geschickt. Aber für die, die blieben, wurden das Leben sehr viel leichter. Und sofort stellte sich Optimismus ein: Von nun an wird alles besser. Es wird keine Transporte mehr geben. Natürlich gab es sie weiter. Aber die Leute sagten sich, sollen die ruhig mit ihrem Film Propaganda machen, Hauptsache uns geht es besser. Die waren nicht alle naiv, im Gegenteil, aber in so einer aussichtslosen Situation wie dieser wollten sie einfach überleben.

Die Leute in Theresienstadt waren privilegiert, ihre Haare wurden nicht geschoren, sie konnten sich gegenseitig besuchen. Selbst noch in Auschwitz wurden die Menschen, die mit Transporten aus Theresienstadt kamen, sonderbehandelt: sie lebten in einem Familienlager. Was war die Funktion dieser Sonderbehandlung.

Justman: 1942/43 sickerten im Westen langsam Gerüchte durch, daß die Juden in den Lagern schlecht behandelt werden. Der Hauptgrund für Theresienstadt war wohl, ein Modell-Ghetto einzurichten, wie es dann ja auch vor der Roten-Kreuz -Kommission vorexerziert wurde. Dabei hatten sie vor allem Angst, daß die Kommission herausfinden würde, daß Theresienstadt nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Auschwitz ist, und dann nach Ausschwitz fragen würde. Für diesen Fall war das Familienlager in Auschwitz eingerichtet worden. Aber wie sich zeigte, war das gar nicht nötig. Das Rote Kreuz fiel auf den Schwindel herein, und die Nazis liquidierten das Familienlager.

Wußten die Lagerinsassen von Theresienstadt wirklich nicht über die Vernichtung in Auschwitz Bescheid oder wollten sie es nicht wissen?

Justman: Es gab Gerüchte hier und da, man flüsterte sich schreckliche Dinge zu. 1943 verdichteten sich die Gerüchte bei der jüdischen Lagerleitung. Sie beschloß, die Berichte nicht öffentlich zu machen, weil sie Panik im Lager befürchteten. In diesem Fall hätten die Nazis alle erschossen. Es gibt dazu eine Geschichte über einen Mann namens Laderer. Er kommt auch kurz im Film vor. Laderer war im Widerstand, bevor er nach Theresienstadt kam und dann nach Auschwitz deportiert wurde. Ein junger SS-Mann, der sich in ein jüdisches Mädchen verliebt hatte, bat ihn, ihm zu helfen, sie und ihre Mutter zu befreien. Laderer und der SS-Mann flohen in SS-Uniformen auf Motorrädern. Sie wollten Geld und Papiere besorgen und dann zu den Frauen zurückkommen. Aber Laderer wollte außerdem nach Theresienstadt, um die Leute dort vor Auschwitz zu warnen. Und das tat er auch, er kam drei- oder viermal und erzählte detailliert, was in Auschwitz passiert. Einige glaubten ihm, die meisten weigerten sich. Und so war diese ganze mutige Aktion umsonst. Immerhin konnte Laderer einen Brief an das Rote Kreuz in die Schweiz schicken. Das war im Frühling 1944, da gab es bereits viele Leute im Lager, die genau Bescheid wußten. Aber sie wollten es nicht verbreiten. War das richtig oder falsch? Ich glaube, es gibt da keine einfache Antwort.

Interview: Dorothee Hackenberg