Das Abschalt-Trauma der GreifswalderInnen

■ Die Atomiker aus dem Norden wollen von ihrem AKW nicht lassen / Podiumsdiskussion in Kreuzberg zum Thema Zeitbombe AKW Greifswald

Welches Haus wäre geeigneter von atomaren Gefahren zu künden als das Haus Gottes? Aber nicht der Hausherr, Pfarrer Haebringer von der Kreuzberger Passionskirche, zelebrierte am Montag abend in seinem Altarraum, sondern Gäste der „Perspektive Berlin e.V.“. Am Podiumstisch links von der Kanzel saßen auch Mitarbeiter jener atomaren Stromzentrale, die seit einigen Wochen nicht nur in Berlin die Gemüter erhitzt. Der Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung, Ramthun und seine Mitstreiterin Rätz aus dem AKW Lubmin bei Greifswald legten ihre Karten sofort auf den Tisch. Sie sind strikt gegen eine Stillegung ihres AKWs: „Solange wir versorgen, tun wir das sicher.“ Der frischgekürte, vom Neuen Forum in die Regierung Modrow entsandte Minister Sebastian Pflugbeil jedenfalls verhalte sich „ziemlich unloyal“, wenn er auf der Grundlage westlicher Zeitungsberichte die Stillegung verlange. Es sei ja wahr, meinte Ramthun, Störfälle habe es gegeben und der technische Jahresbericht 1989 verschweige die erheblichen Mängel der Pannenzentrale nicht. Dennoch müsse die versammelte Gemeinde auch ein Ohr für die haben, denen die Atomkraft Arbeit, Brot und Wärme bringe.

Dietmar Lucht vom gerade gegründeten Unabhängigen Institut für Umweltfragen (DDR), sah das völlig anders. Eine Diskussion über den Atomausstieg gebe es in der DDR seit Jahren. „Man muß nicht technisch versiert sein, um die atomare Gefahr zu erahnen“, so der Umweltexperte. Fatalerweise habe im realexistierenden Sozialismus stets die gottgegebene Formel gegolten: Mehr Energie gleich höherer Lebensstandard. Beinahe hätte Lutz Mez von der Forschungsstelle Umweltpolitik der FUBerlin die Uraltformel unfreiwillig bekräftigt. Denn, so Mez, der Stromverbrauch der DDR sei im vergangenen Jahr das erste Mal rückläufig gewesen - wie der Lebensstandard. Ursache ist jedoch nicht der allgemeine Niedergang am Ende der Honecker-Ära, sondern der Massenexodus der DDR-BürgerInnen gen Westen.

Der Einbruch beim Stromverbrauch mag zur Entspannung der aktuellen Energieprobleme beitragen, das Energietrauma Greifswald löst er mitnichten. Alternativen sind gefragt, von denen es an diesem Abend durchaus viele gab. Michaele Schreyer, Senatorin für Stadtentwicklung und Umweltschutz, sieht in einem Stromverbund, wie er derzeit zwischen dem Braunkohlekraftwerk Offleben bei Helmstedt und dem DDR -Kraftwerk Wolmirstedt abläuft, reale Chancen für die GreifswalderInnen. Sie werden nicht im Dunkeln sitzen müssen. Für eine Übergangszeit wünscht sich Christoph Lange vom Westberliner Ingenieurbüro „Energieplan“ ein Dutzend im Westen produzierte mobile Heizcontainer als Ersatz für die heute aus dem AKW Lubmin ausgekoppelte Fernwärme. Einen zukunftsträchtigen Technologie-Park, in dem zum Beispiel Windräder der Luft Energie abringen, hält Lange im zugigen Norden für eine realistische Perspektive.

Den Greifswalder Betriebsgewerkschaftern sausten die Ohren bei soviel Zukunftsmusik. Sie wunderten sich: Hier in West -Berlin mache man sich offensichtlich mehr Gedanken über das Kraftwerk und die Bevölkerung in Greifswald als zu Hause.

Bärbel Petersen (Siehe auch Bericht Seite 7)