Apocalypse banal

■ Peter Weiss‘ „Die Versicherung“ in Recklinghausen

Sicher ist nur die Verunsicherung. Derart vollmundig werben die Ruhrfestspiele Recklinghausen für Die Versicherung, das Erstlingsdrama Peter Weiss‘ aus der Zeit, als er sich entschloß, vom Maler zum Schriftsteller zu werden. Verunsichert war das Premierenpublikum allerdings - nämlich ob es statt im Theater versehentlich auf einer der derzeit zahlreichen Karnevalsveranstaltungen zwischen Rhein und Ruhr gelandet war.

In einer überzogenen Kostümrevue jagt sich eine Polonaise Blankenese gröhlende Gesellschaft durch eine mit viel Liebe zum Detail überladene Gelsenkirchener Barock -landschaft. Surrealismus? Terrorästhetik? Leider nicht. Statt sich auf die beileibe genügend Grusel bietende groteske Bilderwelt des Peter Weiss zu verlassen, haben die hauseigenen Regisseure Michael Baumgarten und Horst Schäfer eine Fülle von vordergründigen Theaterschocks und überflüssigen Kinkerlitzchen entwickelt, die den beabsichtigten Schauer unter sich begraben. Das Ausstattungsduo Frank Chamier/Marion Eisele hat das Kostümopernkonzept gut begriffen und verdoppelt die ins Leere führenden Ansätze.

Nicht umsonst gilt das 1952 entstandene Stück als schwierig bis unspielbar. Hansgünther Heyme kapitulierte 1969 nach begonnener Probenarbeit, Hans Neuenfels brachte es 1971 zu einer umstrittenen Aufführung in Essen. Die Versicherung steht am Anfang von Peter Weiss‘ schriftstellerischer Tätigkeit, sie ist kein geschlossenes Drama, mehr literarische Fingerübung und Eigentherapie. Während der Niederschrift befand Weiss sich in einer Psychoanalyse bei dem Ungarn Szekely. Er suchte nach seiner Identität als Künstler, experimentierte zwischen surrealistischem Film, Literatur und Malerei. Klassische analytische Alptraumvisionen - später gefiltert nachzulesen in Fluchtpunkt undAbschied von den Eltern - vermischen sich mit den Vorstellungen eines bürgerlichen Totentanzes.

Die Versicherung beschreibt eine Gesellschaft im Endstadium, eine vorrevolutionäre Situation, die eigentlich nur eines finalen Kicks bedarf, um vollends auseinander zu brechen. Die feine Gesellschaft ist geil und verfressen, Menschen treiben es fröhlich mit Hundewesen. Stürme kommen auf, Insektenschwärme sammeln sich. Ein Gesellschaftsarzt a la Professor Brinkmann verwandelt sich in einen Dr.Caligari.

Besonders triebhaft sind, wie sollte es anders sein, die Frauen. Die verfallen abwechselnd einem Flokati namens Pluto oder einem halbhündischen Artgenossen. Aus unerfindlichen Gründen ist Leo in Recklinghausen eine Art Papageno im Federkostüm. Manchmal versucht das Vogelmännchen zu bellen, dann schmelzen die Frauen endgültig dahin, und die Männer kriegen Angst vor der Revolution. Das tun sie, weil das so im Stück steht, in der Inszenierung hätten sie kaum Grund dazu. Die erfreut sich an der Gleichung Libido gleich unbewußt gleich systemgefährdend und genügt sich als schriller Bilderbogen, zu betiteln „Freud für Anfänger“.

Mittendrin der Polizeipräsident Alfons, der sich gegen alle eventuellen Katastrophen versichern will, nur um leidvoll zu erfahren, daß es gegen Triebe und Gefühle keine Versicherung gibt. Joachim Hermann Luger spielt ihn eigentlich gar nicht. Es hätte auch wenig Sinn auf dieser Party buntgeputzter wildgewordener Kleinbürger. Verunsichern können die seit 1952 merklich abgeschlafften Provokationen und Obszönitäten selbst in der Recklinghäuser Provinz niemanden mehr. Vielleicht könnten sie es, hätte die Inszenierung die springenden Situationen zwischen Alltag, Traum, Surrealismus und Terror nicht völlig eingeebnet. Der Schlachtruf „Katastrophen, Revolutionen!“, bei Weiss das Leitmotiv seines apokalyptischen Szenarios, erfährt in Recklinghausen seine Korrektur: Katastrophen, Bagatellen. Die unglückliche Entscheidung, knapp die Hälfte der Rollen mit nur mäßig begabten Laien zu besetzen, vervollkommnet das Bild eines gründlich danebengegangenen Theaterabends.

Andrea Faschina

Weitere Vorstellungen: 23., 24. und 25.Februar