Wieviel Fairneß braucht der Mensch?

Ein Buch über den Wandel sportlicher Moral  ■  WIR LASSEN LESEN

In einer Zeit, wo Doping, Massenkrawalle und Gewalt auf dem Rasen den Sport in fortwährende Legitimationsnöte stürzen, scheint es geraten, sich einer Tugend zu vergewissern, die einst der Inbegriff jeglicher gemeinsamer Leibesübung war. Das „Prinzip Fairneß“ jedoch ist in Gefahr, wie die Sportprofessoren Hans Lenk und Gunter A.Pilz in ihrem neuen Buch zeigen.

Athleten, Trainer und Funktionäre arbeiten, oft mit sprachlich unerlaubten Hilfsmitteln, einer auffälligen Akzentverschiebung in Sachen Fairneß zu. Das „faire Foul“ hat schon Sportschautauglichkeit erlangt und ist somit nicht mehr auf den Index rhetorischen Dopings zu setzen. Fairneß ist, wenn ich den Gegner nicht absichtlich verletzte, äußern moderne Leistungssportler nicht selten im Chor und erhalten anschließend Unterweisungen im Fach „Umhauen“.

Lenk und Pilz leisten Arbeit am Begriff. Sie unterscheiden formelle von informeller Fairneß, wobei erstere Regeleinhaltung impliziert, letztere aber erst jene tugendhafte und geistige Einstellung meint, die erfüllt wäre, wenn Maradona, nachdem er den Ball mit der Hand ins Tor gehievt hat, zum Schiedsrichter geht und beichtet. Die Fairneß als Tugend erlebte ihre Blütezeit im viktorianischen Zeitalter, als die englische Oberschicht noch ungetrübt ihren sportlichen Handlungen nachgehen konnte. Als der Pöbel sein Recht auf sportliches Spiel erkämpft, gerät die Tugend in Gefahr. „Dehnt man den Wettkampfbetrieb auf alle Sozialschichten aus, so verschärfen sich die Auseinandersetzungen - ernste Kämpfe führen wiederum zu einer Aushöhlung (...) der Fairneß“.

Um kein Mißverständnis entstehen zu lassen: Lenk und Pilz sehnen sich nicht zum herrschaftlichen Sport zurück. Sie reklamieren vielmehr den zu dieser Zeit entstandenen Begriff der Fairneß, um ihn für unseren modernen Sportbetrieb umzubauen. Hier jedoch laufen sie meines Erachtens in eine sportwissenschaftliche Abseitsfalle. Gewiß, die Probleme, die dem Sport an Fenstern und Türen ins Haus stehen, haben ihre Ursachen in einer ereignissüchtigen Mediatisierung und einer profithungrigen Kommerzialisierung, die wiederum einer gesamtkulturellen Entwicklung angehören. Darunter leidet nicht allein der Sport; eher kann man sagen, daß diese Phänomene hier ungeschminkt zum Ausdruck kommen.

Lenk und Pilz argumentieren, daß man die systembedingten und strukturellen Anreize zur Unfairneß demobilisieren und entdramatisieren müsse. Ihr sozialpolitischer Impetus geht gegen die in dem Buch vielzitierte Ellenbogengesellschaft. „Die angestrebte Remobilisierung des Fair Play und die Demobilisierung der Unfairneß können nur Hand in Hand mit der Teilabrüstung der Gesetze und Mentalitäten der Ellbogengesellschaft erfolgen - oder durch eine allgegenwärtige, unbestechliche, ihrerseits wieder der Kontrolle unterworfenen Kontrolle der Regeleinhaltung.“

Was hier einen systemkritischen Ansatz verrät, hat einen kulturkonservativen Zug. Das Dilemma einer solchen Sportsoziologie besteht möglicherweise darin, daß sie die dunklen Seiten des Sports, die für das Gesamtgebilde sehr wohl konstitutiv sein können, nicht zulassen möchte. Genau hierhin aber wäre ein „fremder Blick“ zu richten. „Im Sport“, schreibt Michel Bernard, „will sich die Gesellschaft ihre Realität bestätigen, sich in ihrer wenngleich konfliktvollen Existenz überzeugen, von ihrer Macht der Unterordnung und Überschreitung von Ordnung und Unordnung, von ihrem Bedürfnis nach Sicherheit und Risiko.“

„We want Mac back“, schrien australische Tennisfans, als Big McEnroe wegen seiner bekannten Rüpeleien vom Grand Slam -Spektakel in Melbourne ausgeschlossen wurde. Vielleicht erlebt gerade der Tennissport die augenblickliche Begeisterung auch deshalb, weil der nicht gerade niedrig gehängte Sittenkodex des weißen Sports von großen Kindern wie McEnroe ab und zu beschmutzt wird.

Harry Nutt

Hans Lenk/Gunter A.Pilz: Das Prinzip Fairneß. Edition Interfromm, Zürich 1989, 148 Seiten, 14 Mark