Das „tropische Europa“ übt den Abschied von der EG

Die Unabhängigkeitsbewegungen der Euro-Kolonien sind gegen eine Mitgliedschaft, doch für die Hauptstädte der Zwölf sind die Territorien von vielfältiger Bedeutung  ■  Aus Brüssel Michael Bullard

Sandstrände blitzen im kalten Neonlicht, türkisblau umspülte Palmenhaine beschatten dunkelhäutige Menschen auf roten Sesseln, schweißperlende Seeräuber drängen in den Konferenzsaal - ein exotischer Reigen der letzten Kolonien Europas gab sich vergangene Woche im Europaparlament die Ehre: aus Martinique, St.Martin und Guyana, aber auch aus Polynesien und Neukaledonien, von den Azoren, den Kapverden und den Kanaren. Abgesandte der Völker aus fernen Gegenden mit wohlklingenden Namen waren Ende vergangener Woche nach Brüssel gekommen, um ihre Mitgliedschaft in der EG oder die Assoziation mit der EG aufzukündigen. Denn während es die Länder auf dem alten Kontinent zur EG drängt, will das „tropische Europa“ die koloniale Heimstatt verlassen zumindest fordern das seine Unabhängigkeitsbewegungen.

Zum Teil über 10.000 Kilometer waren EG-BürgerInnen, EG -assoziierte oder freie Menschen angereist, um die Auswirkungen des für Ende 1992 angestrebten Binnenmarktes auf ihre Länder zu diskutieren. Fazit: „Wir können es nicht länger tolerieren, daß die Kolonisierung jetzt auf europäischer Ebene weitergeführt wird. Die in der Einheitlichen Akte festgelegten expansionistischen Tendenzen der EG müssen gestoppt werden.“ So faßte Henri Bernard von der Volksbewegung für die Befreiung Guadeloupes (PMGI) die Stimmung im Saal zusammen.

Denn die Separatisten fürchten, daß sie im Zuge der Liberalisierung des EG-Marktes auch noch den Rest ihrer seit Jahrhunderten kolonisierten Eigenständigkeit verlieren. Zwei Tage lang verglichen knapp 100 fast ausschließlich männliche Vertreter von Gewerkschaften, kommunistischen und sozialistischen Parteien sowie nationalen Befreiungsbewegungen die Situationen in ihren Ländern.

Die Initiative für die Veranstaltung war von vier Unabhängigkeitsbewegungen aus der Karibik, den Azoren und den Kanarischen Inseln ausgegangen. Sie bestimmten auch die Teilnahmeliste, nach der Dorothee Piermont, Abgeordnete der Regenbogenfraktion im Europaparlament, zur Beratung eingeladen hatte.

„Die Gemeinschaft zählt eine große Anzahl Regionen und Gebiete außerhalb des kontinentalen Europa, die in der Regel weit entfernt liegen, von geringer Ausdehnung sind und sich so über den gesamten Globus verteilen, wie es die Geschichte der Mitgliedstaaten gefügt hat“, konstatiert die EG -Kommission kühl.

Im Poseidom-Bericht, der Ende Dezember veröffentlicht worden war, rechtfertigen die Eurokraten die dazu benötigten hohen Subventionen. Schließlich haben die weit entfernten Gebiete wichtige Funktionen: Guyana als europäischer Weltraumflughafen, Polynesien als Atombombenversuchsgebiet, die karibischen Besitzungen als Speerspitze europäischer Handelsgesellschaften im Hinterhof der USA, die Falkland -Inseln als Demonstrationsobjekt fortbestehenden kolonialen Größenwahns, die Kanarischen Inseln als Hyper-Sanatorium für die jungen und alten Opfer der kontinentalen Leistungsgesellschaft. Überdies dienen die „überseeischen Besitzungen“ auch als Produzenten tropischer Früchte und Gewürze und als Konsumenten europäischer Überschußproduktion.

Diese einseitige Orientierung auf die Zentrale soll nun beendet werden. Als wirtschaftliche Alternative propagierte Rosie Douglas von der „freien“ Dominikanischen Republik regionale Zusammenschlüsse wie die Carecon in der Karibik. Henri Bernard unterstützte ihn darin: „Guadeloupe ist nicht europäisch. Es gehört zum karibischen Raum.“

Doch auch für die Brüsseler Eurokraten ist Kolonie nicht gleich Kolonie. Da gibt es die Mittelmeerinseln Korsika, Sardinien, die Balearen, aber auch die Kanalinseln sowie Schottland und Nordirland. Die bekanntesten europäischen Festlandkolonien sind das Baskenland und Gibraltar. All diese Länder, Inseln und Inselstücke betrachtet die Kommission als Bestandteil des Gemeinschaftsterritoriums. Die Insellage ist allerdings auch charakteristisch für die meisten außereuropäischen EG-Kolonien, deren es - selbst im Zeitalter mittel- und osteuropäischen Selbstbestimmungsdrangs - noch 36 gibt. Unterscheiden kann man sie daran, ob sie einem der 12 Mitgliedstaaten einverleibt sind oder ob ihnen bereits ein gewisses Maß an Selbstverwaltung gewährt wird.

Angeführt werden die „assoziierten“ Kolonien von Grönland, das Dänemark eine weitgehende Unabhängigkeit abgetrotzt hat. Zu dieser Gruppe gehören auch die britischen Falkland -Inseln, die französischen und britischen Teile der Antarktis, Neukaledonien und Polynesien (Frankreich) oder die niederländischen Inseln Aruba und Cura?ao. Auch in der einverleibten Gruppe finden sich begehrte Reiseziele wie die Kanarischen Inseln (Spanien), die Azoren (Portugal) und die vier überseeischen Departements Frankreichs, die „DOM„s Guyana, Guadeloupe, Martinique und Reunion.

Daneben unterhält die EG noch Beziehungen zu einer dritten Art von Kolonien. Den sogenannten AKP-Staaten haben die Kolonialmächte zwar inzwischen die politische Unabhängigkeit gewährt, wirtschaftlich hat sich aber an deren Ausrichtung auf die Metropolen wenig geändert. Während sie am Tropf des gerade erneut für fünf Jahre ausgehandelten Lome-Abkommens hängen, haben die assoziierten Kolonien immerhin begrenzten Zugriff auf den Entwicklungsfonds der EG. Für die einverleibten Gebiete hingegen kann die Kolonialregierung wie für jede andere kontinentaleuropäische EG-Region Mittel aus den Sozial-, Regional- und Agrarfonds der Kommission beantragen. Dort gelten in der Regel auch alle EG-Verträge und Richtlinien. Die rund drei Millionen Bewohner haben das dubiose Recht, an den Wahlen in Europa beispielsweise zum Europaparlament teilzunehmen. Wahlenthaltungen bis zu 90 Prozent sind allerdings keine Seltenheit. Andererseits wird dort befürchtet, daß im Zuge der Angleichung unzulässiger Handelshemmnisse im Binnenmarkt zum Wegfall des Privilegs lokaler Importsteuern - der Haupteinnahmequelle der Kolonialverwaltungen - führen wird.

Allen drei Gruppen ist eines gemeinsam: Ende 1992 geht es um die Banane. Denn einige Kolonien wie Martinique, Guadeloupe (DOM), die Kanarischen Inseln und einige AKP -Staaten dienen als europäische Bananenplantagen, die etwa die Hälfte des EG-Konsums befriedigen. Bislang haben sie in einigen EG-Ländern (Frankreich, Spanien, Portugal, Griechenland, Italien und Großbritannien) bevorzugte Lieferbedingungen, während die Bundesrepublik, die Benelux -Länder, Dänemark und Irland als freie Bananenmärkte hauptsächlich von den US-Bananenmultis beliefert werden. Die Kolonien fürchten nun, im Zuge der Liberalisierung ihre Vorrechte und damit ihre gesicherten Absatzmärkte zu verlieren, weil die US-Konzerne um mehr als die Hälfte billiger anbieten. Deshalb fordern sie auch für die Zukunft eine Hierarchisierung des Marktzugangs nach EG-Nähe (EG -Produzenten, AKP-Produzenten, Drittländer) und Produktionskosten. Rosie Douglas Antwort auf die drohende Liberalisierung: Die „Totalität der Banane“ muß gewährleistet sein - durch eine gemeinsame Vermarktungspolitik der EG-Kolonien.

1992 ist jedoch auch die Totalität der Exotik bedroht: Die künftige Grenze der EG wird mitten durch die karibische Insel St.Martin verlaufen, da die südliche - bislang französische Hälfte - Teil der EG ist, während die nördliche, bislang holländische Hälfte nur assoziiertes Mitglied der EG ist. Im Zuge der Grenzaufweichung nach innen sollen die Grenzen nach außen verstärkt werden, um illegale Importe - in diesem Falle aus dem Dollar-Raum - zu stoppen. Daß dieses anachronistische Resultat kolonialer Totalität verhindert werden muß, darin waren sich die Teilnehmer des Kolloquiums einig. Bei den Eurokraten hingegen wird der Appell höchstens unter der Rubrik „Exotisches“ abgeheftet werden.