Der Genscher-Plan: eine entmilitarisierte Zone

Für die Sowjets ist das Modell „nicht attraktiv“ / Ihnen geht die Vereinigung der beiden Deutschlands im Nato-Mantel zu schnell / In Ottawa wurde deutlich, daß die UdSSR beim Thema Neutralität bleibt und ohne Konzessionen Bonns bei den Wiener Verhandlungen nichts geht  ■  Aus Ottawa Andreas Zumach

„Wir wissen, daß die konventionelle Abrüstung durchgreifende Auswirkungen auf die Stärke der Bundeswehr haben wird.“ Mit diesem noch sehr vorsichtig formulierten Satz versuchte Bundesaußenminister Genscher am Dienstag morgen vor dem Plenum der 23 Außenminister von Nato und Warschauer Vertrag (WVO) in Ottawa zu signalisieren, daß er „das Kernproblem“ der sowjetischen Sicherheitsinteressen ernst nimmt. Zuvor hatte er vor Journalisten erstmals seine Formel von der Nato -Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands in einem entscheidenden Punkt präzisiert: auch eine Stationierung von Bundeswehrsoldaten östlich der Elbe unter einem Nato -unabhängigen, nationalen deutschen Oberkommando sei nicht vorgesehen.

Ob dies bereits Konsens in der Bonner Koalition und der Bundeswehrführung ist, sei hier einmal dahingestellt. Käme das Genscher-Modell zum Zuge, würde - bei gleichzeitiger Selbstauflösung der Nationalen Volksarmee der DDR, von der nicht nur in Bonn ausgegangen wird - eine rund zweihundert Kilometer breite entmilitarisierte Zone zwischen Elbe und polnischer Westgrenze entstehen. Daß dies jedoch zur Befriedigung der von Deutschland in diesem Jahrhundert zweimal überfallenen UdSSR nicht ausreicht und daß zumindest einem Teil des politischen und militärischen Establishments in Moskau der Bonn Vereinigungsfahrplan viel zu schnell geht, machten Mitglieder der sowjetischen Delegation in Ottawa deutlich.

Vitaly Churkin, Sprecher von Außenminister Schewardnadse, hatte bereits am Sonntag abend nach einer Sitzung der sieben WVO-Außenminister von einer „einhelligen“ Befürwortung der Neutralität Deutschlands berichtet und die Reduzierung der Bundeswehr auf 100.000 Mann sowie ihre Umrüstung zu „reinen Selbstverteidigungszwecken“ gefordert. Seine von zahlreichen Medien verbreitete Darstellung von einem WVO-Konsens in der Neutralitätsfrage mußte er zwar nach Interventionen der Außenminister der CSSR, Ungarns und Rumäniens am Montag öffentlich zurücknehmen. Doch Tatsache bleibt, daß Schewardnadse auf der fraglichen Sitzung ohne Widerspruch von irgendeiner Seite Moskaus Priorität in Sachen Neutralität Deutschlands erklärt hatte.

Sein Stellvertreter, der Abrüstungsexperte Viktor Karpov, sprach sich auf einer Pressekonferenz für die Neutralität und gegen eine „Nato-Mitgliedschaft Ostdeutschlands“ aus. Das Genscher-Modell sei „nicht attraktiv“ für Moskau. Und nach einem Treffen mit seinem britischen Amtskollegen Douglas Hurd nannte Schewardnadse auch öffentlich die Neutralität Deutschlands „eine von verschiedenen Möglichkeiten“ und mahnte zur „Langsamkeit“ beim Vereinigungsprozeß.

Eine Zustimmung zur von Bonn und Ost-Berlin im Detail ausgehandelten Vereinigung, die endgültige Aufgabe ihrer Vorbehaltsrechte und die Absegnung des ganzen Prozesses bereits auf einem KSZE-Gipfel im November dieses Jahres zu geben, ist Moskau nicht geheuer. Denn der von Bonn unterbreitete Zeitplan sieht bis dahin keinerlei Wiener Verhandlungen über deutliche Reduzierungen der Bundeswehr vor. So entstand in Ottawa zeitweise der Eindruck, die Moskauer Gespräche der letzten Woche seien weniger harmonisch verlaufen als von Kohl und Genscher bislang dargestellt.

Genscher und sein Sprecher versuchten, diesem Eindruck kräftig entgegenwirken. Bonn halte sich an die durch die Nachrichtenagentur 'Tass‘ am letzten Samstag verbreitete „offizielle Haltung der sowjetischen Regierung“, wonach „die Frage der Einheit der deutschen Nation nur von den Deutschen selbst entschieden werden“ soll, und sie selbst wählen müssen, in welchen staatlichen Formen, in welchen Fristen, mit welchem Tempo und unter welchen Bedingungen sie diese Einheit realisieren werden. Zugleich wurde jedoch darauf verwiesen, daß „der Meinungsbildungsprozeß“ in Moskau noch nicht abgeschlossen sei. Deutlich sei das zentrale Interesse der sowjetischen Führung daran, daß „der ganze Prozeß in geordneten Bahnen“ verlaufe und die sich auflösenden östlichen Strukturen des Warschauer Vertrages und des RGW rechtzeitig durch neue gesamteuropäische Strukturen ersetzt werde.

Mit nahezu identischen Formulierungen beschrieb ein hoher Beamter des State Department und enger Baker-Vertrauter, der den US-Außenminister letzte Woche nach Moskau begleitet hatte, am Montag abend in einem Hintergrundgespräch die Situation. Er erklärte, der Bonner Vorschlag für die Vorgehensweise nach den DDR-Wahlen am 18. März finde in Form und Inhalt die volle Unterstützung Washingtons. Wie Genscher beschrieb er die Reaktion der Moskauer Regierung auf den Vorschlag als „undogmatisch“ und „positiv interessiert“. Ob die in Ottawa gefallenen Äußerungen sowjetischer Vertreter lediglich taktische Manöver zur Beruhigung der Falken zu Hause sind oder tatsächliche Konflikte widerspiegelten, ließ er offen.