Szenarien für den Anschluß

Beitritt, Anschluß, verfassungsgebende Versammlung, Volksabstimmung - schon geht es nicht mehr um Stufenpläne zur Wiedervereinigung, sondern um Szenarien, wie die beiden deutschen Staaten auf einen Streich vereint werden können. Vorschläge werden dabei von folgenden Fragen geleitet: Soll die DDR-Regierung nach den Wahlen im März noch ein selbständiger Faktor im Vereinigungsprozeß sein? Sollen die BürgerInnen in beiden deutschen Staaten überhaupt nach ihrer Meinung gefragt werden? Und schließlich: Wie kann gegenüber der internationalen Öffentlichkeit der Eindruck vermieden werden, die reiche Bundesrepublik verleibe sich das marode Nachbarland im Handstreich ein?

Besondere Aufmerksamkeit widmen Politiker und Juristen neuerdings dem fast vergessenen Artikel 23 des Grundgesetzes - auch „Saarland-Paragraph“ genannt. Auf seiner Grundlage konnte nämlich das Saarland noch 1956 der Bundesrepublik beitreten. Das Grundgesetz, ausdrücklich als Provisorium angelegt, gelte nur „zunächst“ in den westdeutschen Bundesländern, so heißt es in diesem Artikel, „in anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen“. Das Bundesverfassungsgericht urteilte 1973 knapp und eindeutig: „Daß diese Bestimmung in einem inneren Zusammenhang mit dem Wiedervereinigungsgebot steht, liegt auf der Hand.“

Eine direkte Anschlußmöglichkeit also für die künftig wiederhergestellten fünf Länder in der DDR oder sogar für die DDR als Ganzes? Dieses Szenario wird von Bundesinnenminister Schäuble (CDU) und Finanzminister Waigel (CSU) favorisiert. Schäuble: „Das wäre sicherlich der einfachste und der schnellste Weg zur Herstellung der deutschen Einheit.“

Das historische Beispiel des Saarlands läßt sich allerdings nicht umstandslos für einen jetzigen Hauruck-Anschluß der DDR ins Feld führen: Im Saarland ging nämlich der Beitrittserklärung durch den Landtag eine Volksabstimmung voraus; außerdem verlief der Anschluß damals im Rahmen einer vierjährigen Übergangsphase. Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Juristen, Horst Isola, ist deshalb der Ansicht, eine Ausdehnung des Grundgesetzes auf die DDR käme nur für eine Übergangszeit in Betracht.

Ein etwas aufwendigerer Weg zur Wiedervereinigung könnte über eine verfassungsgebende Versammlung führen. Im Artikel 146 des Grundgesetzes heißt es dazu nur vage, diese neue Verfassung müsse „vom deutschen Volk in freier Selbstbestimmung beschlossen“ werden. Im Kanzleramt wird bisher die Vorstellung gehandelt, die verfassunggebende Versammlung solle nicht durch Direktwahl der BürgerInnen, sondern durch Delegierte von Bundestag und Volkskammer besetzt werden. Eine Volksabstimmung durch die Bundesdeutschen sehen die Regierungsparteien ohnehin nicht vor: Justizminister Engelhard (FDP) und Bundestagspräsidentin Süssmuth (CDU) argumentieren übereinstimmend, die Bundesbürger hätten sich mit ihrer Zustimmung zum Grundgesetz und dessen Präambel ja bereits für die deutsche Einheit entschieden.

Die SPD in Ost und West will hingegen, so erläuterten Hans -Jochen Vogel und Ibrahim Böhme gestern, vor der letzten Schraubendrehung zur Wiedervereinigung einen Volksentscheid in beiden Staaten. Böhme möchte dies gleich im April in der neuen Volkskammer beraten. Rasch geht es also auch nach diesem Szenario. Und Gorbatschow, so verlautet aus der Umgebung Helmut Kohls, werde jede Option akzeptieren, auch die des simplen Anschlusses.

Charlotte Wiedemann