Ohne Zynismus, ohne Qual

■ Anja Lundholms Bericht über das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück „Das Höllentor“

Martin Kurbjuhn

Anja Lundholms Das Höllentor ist der Bericht einer Überlebenden des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück nördlich von Berlin, in dem zwischen 1939 und 1945 über 100.00 Frauen und Kinder durch Hunger, Seuchen, medizinische Versuche, Zwangsarbeit, Erschlagen, Erschießen und Vergasen ermordet worden sind. Anja Lundholm wurde 1944 in Rom verhaftet und als politische Gefangene und sogenannte Halbjüdin ins Lager geschafft, ihre fünf Monate alte Tochter blieb allein in der Wohnung zurück. Das Buch ist der Versuch, eine Realität wiederzubeleben, die meistens abstrakt abgewehrt, primitiv wegphilosophiert oder im schlimmsten Fall als längst bekannt beiseite geschoben wird.

Obwohl Anja Lundholm von ihren eigenen Erlebnissen ausgeht, ist ihre Darstellung weder rein autobiographisch noch von der Absicht bestimmt, endgültige Erklärungen liefern zu wollen, um die Ereignisse historisch zu erledigen. Es ist ein Buch der Vergegenwärtigung, nicht der abgeschlossenen Erinnerung. Die Einzelheiten des Horrors widerstehen der nachrtäglichen Interpretation. Sie bleiben gewissermaßen unberührt neben der Suche nach den Ursachen bestehen. In der allgemeinen Analyse soll die Erfahrung aufgehoben sein. Sie ist es nicht. Anja Lundholm begnügt sich nicht mit dem nüchternen Registrieren, sie klagt auch nicht einfach an. Ihre Methode ist die präzise, immer weiter getriebene Rekonstruktion des Schreckens in seinen Einzelheiten, ein genaues, oft geradezu halluzinatorisches Erinnern auf der Basis dokumentarischer Genauigkeit. Hier wird nichts „bewältigt“, sondern die Unmöglichkeit der Bewältigung gezeigt. Indem Anja Lundholm ihre Erfahrungen und die mit diesen Erfahrungen verbundenen Emotionen so dicht an sich herankommen läßt, zwingt sie den Leser zu einer Art von Teilnahme, die es ihm nicht mehr erlaubt, dem beschriebenen Prozeß der totalen Destruktivität auszuweichen. Ihm wird die Möglichkeit genommen, sich - durch moralische Empörung erleichtert - von den tatsächlichen Geschehnissen abwenden zu können.

Die Lektüre ist kaum zu ertragen. Das Grundgefühl der Hilflosigkeit, das einen beim Lesen von Seite zu Seite immer stärker erfaßt, entsteht wohl aus der unausweichlichen Konsequenz, daß es keine Rückkehr gibt zu ethischen Vorstellungen, in die diese Erfahrungen nicht eingegangen sind. Und niemand weiß, wie eine solche „Verarbeitung“ auszusehen hätte, ob sie überhaupt denkbar und wünschenswert ist, ob nicht die bewußte Abwehr, die herrschende Stumpfheit und der leichtfertige Hinweis auf die abgelaufene Zeit als „normale“ Reaktionen - einschließlich der Wiederkehr des Vergangenen in verzerrter Form - hingenommen werden müssen. Anja Lundholms Buch provoziert gerade wegen seiner Härte und Detailgenauigkeit solche Fragen.

In Anja Lundholms Buch fehlt die Überhöhung der Brutaliäten ins Mystische; sie liefert keine politische Analyse; sie erklärt nicht die ideologischen Fixierungen der Täterinnen und Täter; sie vermeidet alle denkbaren Spielarten der Verdrängung, die sich inzwischen ja auch in der Form der rücksichtslosen Offenheit, dem sogenannten Brechen von Tabus äußert.

Ihre Fähigkeit, sich selbst wie eine fremde Frau mit bestimmten, unter den gegebenen Umständen „typischen“ Erlebniswelten darzustellen, ermöglicht es ihr, persönliche Erfahrungen nicht nur von außen zu sehen, sondern sich im Verhalten, Denken und Leiden der anderen Frauen wiederzuerkennen, ohne allerdings die individuell sehr verschiedenen Reaktionen zu unterschlagen. Daß die Frauen sich alle in der gleichen schrecklichen Situation befinden, schließt die Selbstlosigkeit so wenig aus wie den verräterischsten Egoismus oder die wachsende Apathie und Todesbereitschaft, oft von einer Person in unterschiedlichen Situationen repräsentiert.

Anja Lundholm beobachtet alle diese menschlichen Möglichkeiten bei sich selbst kühl und genau. Es ist manchmal fast der Blick einer Forscherin, die aus großem zeitlichen Abstand, gefoltert durch die eigene Erinnerung, die unheimliche innere Logik der vom äußeren Zwang hervorgerufenen Verhaltensmechanismen studiert. Dem Angriff der Mörderinnen und Mörder auf die sogenannte individuelle Freiheit hält sie nicht den bekannten, ehrenwerten, aber folgenlosen Appell, die Würde des einzelnen Menschen zu bewahren, entgegen, sozusagen als eine Konstante, die selbst die Nazis nicht hätten außer Kraft setzen können. Diese Illusion ist ihr gründlich ausgetrieben worden. Sie existiert nicht einmal mehr als Ideal. Eine Szene aus der Beschreibung des Arbeitsalltags in einem Rüstungsbetrieb der Firma Siemens:

„In die Stille hinein fährt der schrille Ruf einer der beiden Aufseherinnen:

Tisch siebzehn, die dritte von links, aufstehen, melden!

Mit gesenkten Köpfen hören wir Stuhlrücken, dann die heisere Stimme einer älteren Frau: Elftausendsiebenhundertunddreizehn! Hierher! Ihr anderen, alle mal herschauen!

Wir blicken auf Kommando alle in die gleiche Richtung. Da steht die Krüger-Sichard, eine der brutalsten Aufseherinnen des FKL, hoch aufgerichtet am Observationstisch. Ihr nähert sich auf unsicheren Beinen, als mache ihr das Gehen Schmerzten, eine ältere Frau. Ihr Äußeres zeigt den Versuch, den Lumpen zum Trotz gepflegt zu erscheinen. Das graue Haar hält sie mit einem Stirnband zusammen, ihr Kittel ist sauber und ordentlich geknöpft.

Du elende Sau hast gesprochen, schreit die Krüger, was hast du gesagt?

Ich habe nicht gesprochen, Frau Aufseherin.

Die Krüger holt aus, schlägt ihr die flache Hand durchs Gesicht:

So, lügen tust du auch noch?

Sie wendet sich an die Zivilfrauen gegenüber dem Platz der Delinquentin:

Hat sie gespreochen oder nicht?

Fünf der Frauen schütteln den Kopf, zwei nicken. Schadenfroh.

Da siehst du's selbst, du Miststück. Du hältst uns wohl für blöd?

Zwei weitere Schläge folgen, die die Frau taumeln lassen. Was dann kommt, läßt mich laut meine Ohnmacht verwünschen. Doch niemand beachtet es, aller Augen sind auf das Opfer gerichtet, das sich über den Tisch beugen muß, während die Krüger zum Ochsenziemer greift, dem, wie ich später erfahre, allgemein gebräuchlichen Züchtigungsinstrument für Arbeitssklaven in der Rüsung.

Hosen runter!

Zitternd, ungelenk, kommt die Frau dem Befehl nach. Und um sie herum stehen die männlichen Werkarbeiter und schauen zu, grinsend, verlegend und abgestoßen. So etwas, hat es im FKL geheißen, genießt die Krüger. Sie holt aus. Es pfeift und klatscht.

Los, mitzählen!

Zwölf Peitschenschläge. Schon nach dem fünften bricht der Frau die Stimme, sie gurgelt unverständliche Laute. Die Haut, pergamentdünn und trocken, reißt auf, Blut quillt heraus, rinnt in den bis zu den Knien herabgestreiften Stoff.

Hoch! Abziehen, vorwärts!

Das schafft sie nicht, ihre Nerven versagen. Es ist ein zusätzlich grausiges Schauspiel, wie die Hände im Wunsch, ihre Blöße zu bedecken, wieder und wieder ins Leere greifen. Jeden von uns packt der Wunsch, ihr beizustehen, ihr zu helfen. Drohende Blicke der Aufseherinnen halten uns in Schach. Endlich bekommt sie den Saum der blutdurchtränkten Unterwäsche zu fassen, zieht sie hoch.

Die Krüger sieht aus, als habe sie soeben mit Genuß ein Stück Kuchen verzehrt.

Merk dir das gefälligst, du Dreckvieh: Noch mal dein Maul aufgerissen, und du bist dran, kapiert?

Zurück an den Arbeitsplatz! Bißchen dalli!

Das ist auch das Zeichen für uns, uns wieder der Arbeit zuzuwenden. Jetzt dürfen wir die Augen nicht mehr vom Tisch heben, es sei denn, wir würden von einem Vorarbeiter oder dem Werkmeister selbst angesprochen. Dabei würde ich zu gern hinübersehen zum Tisch des Opfers, weil ich mir noch vorstellen kann, wie sie das nach der Behandlung noch fertigbringt, sich niederzusetzen. Später wird mir Gitte sagen, die solcherart Gezüchtigten 'dürften‘ im Stehen weiterarbeiten, und zwar so lange, bis ihre Wunden verheilt seien. Zusätzliche Schande: Ein nachträgliches am Pranger stehen.“

Da die Vernichtung durch Arbeit während der Nazizeit aus leicht verständlichen Gründen besonders gern verschwiegen wird, hier ein Dokument aus dem Buch von Anja Lundholm:

Rentabilitätsberechnung Ausleihkräfte

Siemens & Halske, abzurechnen über

Arbeitseinsatzstelle Buchenwald

Erlös aus Verleihlohn:

tägl. Verleihlohn, durchschnittl.+ RM 6,00

abzügl. Ernährung- RM 0,60

abzügl. Bekl.-Amort.- RM 0,10

+ RM 5,30

durchn. Lebensdauer

9 Monate 270 Tage* 270

+ RM 1.431,00

Erlös aus rationeller Verwertung der Leiche:

durchschnittl. Gewinn an Haar, Zahngold, Kleidung, Wertsachen und Geld, abzüglich Verbrennungskosten von RM 2,00+ RM 200,00

Gesamtgewinn nach 9 Monaten:RM 1.631.00

Anja Lundholms Mißtrauen gegen die Verallgemeinerung, gegen eine das Erlebnisdetail so leicht herabwürdigende Abstraktion ist auf jeder Seite spürbar. Der Schrecken ist konkret, die Interpretation entfernt sich notwendigerweise vom Konkreten, in dem allein die Dichte der Wirklichkeit erfaßt werden kann. Das Darstellungsproblem ist natürlich unlösbar, es gibt nur Annäherungswerte, aber diese Annäherungswerte sind nur zu haben, wenn die Beschreibung das Bewußtsein ihrer Vorläufigkeit mit einschließt.

Neben dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück liegt der Ort Fürstenberg. Die Einwohner sagen Tag und Nacht die Flammen, den Rauch aus dem Schornstein des Krematoriums. Sie lebten unter der Asche der Ermordeten, in Häusern, deren Mauern vom Ruß und Fett verschmiert waren. Immer wieder fragten sich die Frauen im Lager, wie die Leute es draußen mit diesem Wissen aushielten. Sie konnten es aushalten, ohne jeden Zynismus, ohne jede Qual.

Anja Lundholm: „Das Höllentor“, Rowohlt Verlag, 313 Seiten, 34 DM