Gehen oder bleiben

■ „Tage ohne Sonne“ von Shu Kei (Hongkong)

Ursprünglich wollte Shu Kei, Regisseur und Filmkritiker in Hongkong, einen Film über den chinesischen Sänger und Komponisten Huo Deijan machen, der 1983 aus Taiwan in die Volksrepublik China übersiedelte. Shu Kei war wie eine Reihe junger asiatischer Filmemacher von der renomierten japanischen Fernsehanstalt NHK beauftragt, für eine wöchentliche Dokumentarfilmserie sein Land oder seine Stadt filmisch zu beschreiben.

Dann war plötzlich alles anders: Im letzten Frühjahr erlebte die Volksrepublik China die größten spontanen Massendemonstrationen in ihrer 40jährigen Geschichte. Gemeinsam mit anderen chinesischen Studenten und Intellektuellen beteiligte sich der Musiker im Mai am Hungerstreik und geriet so in den letzten Tagen der Pro -Demokratiebewegung ins Licht der Öffentlichkeit. Seit dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz ist er verschwunden. Es heißt, er habe sich in die australische Botschaft geflüchtet.

Die Demokratiebewegung und ihre blutige Niederschlagung riefen in Hongkong lebhafte Reaktionen hervor. Weil in der glitzernden und geschäftigen Handels- und Bankmetropole plötzlich alles anders war, entschloß sich Shu Kei die Auswirkungen dieser Ereignisse auf seine Stadt festzuhalten.

Das Massaker in Peking zwang die Leute sich zu entscheiden, ob sie für ihre Zukunft in Hongkong kämpfen wollen oder den Weg in die Emigration vorziehen. „Anfangs dachte ich, das ginge mich alles nichts an. Ich sah dreckige, langhaarige chinesische Studenten im Fernsehen und sie waren mir egal“, sagt die Schauspielerin Deanie Ip. „Worte wie Freiheit oder Demokratie hatten für mich keine Bedeutung. Ich habe mich nie um Politik gekümmert. Jetzt ist alles anders. Ich habe immer davon geträumt Hongkong zu verlassen, aber jetzt ist das Gefühl stärker geworden, daß ich hier bleiben muß.“

Auch eine Gruppe von Studenten und Künstlern glaubte, irgend etwas tun zu müssen. So begannen sie, die Göttin der Demokratie, als die Panzer in Peking sie niederwalzten, nachzubilden und gleichzeitig einen Kurzfilm darüber zu drehen. Der 1 1/2minütige Streifen sollte in allen Kinos der Stadt als Vorfilm laufen. Doch kein Kino erklärte sich bereit, den Film zu zeigen. Auch die Statue der Göttin der Demokratie wurde innerhalb kürzester Zeit aus der Öffentlichkeit verbannt. Das Atelier, in dem sie dann lagerte, ist mittlerweile zerstört.

Tage ohne Sonne ist ein Film über die Frage von Bleiben oder Gehen, Flüchten oder Standhalten, ein Film über die nationale Identität, über Heimat und Zugehörigkeit.

Der chinesische Dichter und Maler Duo Duo lebt seit dem 4. Juni in London im Exil. „Es gibt keine Heimat mehr, in die man zurückkehren könnte. Alle gewohnten Wege der Orientierung - über Psychologie oder über die Sinne - gibt es nicht mehr.“ In London fühlt er sich einsam und fremd.

Neben der persönlichen Auseinandersetzung mit Nationalität und Heimat macht Tage ohne Sonne aber auch deutlich, wie stark die Macht der Pekinger Führung ist. Law and Order sind wichtiger als die öffentliche Solidarität für die Demokratiebewegung. Die Zensurmaßnahmen wurden als Folge der Repressionen in China verstärkt. Alles was die Beziehungen zum Festland stören könnte, wird rigoros verboten. So wird auch Tage ohne Sonne kaum eine Chance haben, in den Hongkonger Kinos aufgeführt zu werden, sondern auf die Ausstrahlung im japanischen Fernsehen beschränkt bleiben.

Ein sehenswerter Film dachte ich. Meine Freundin aus Shanghai war jedoch empört. Sie schäme sich für die Hongkong -Chinesen. Ihrer Meinung nach haben sie überhaupt kein Nationalgefühl. Keine Spur mehr von Solidarität, sondern nur noch fieberhafte Vorbereitungen für die Ausreise nach Kanada und die Rettung der eigenen Haut.

Marina Schmidt

Tage ohne Sonne/Meiyou taiyang, Regie: Shu Kei, Hongkong/Japan 1990, 90 Min.

15.2. Akademie der Künste, 17.00 Uhr