Amerikanische Obsessionen

■ Mit „Route One/USA“ von Robert Kramer steht es drei zu null für das Forum

Immer wieder drängt die Freiheitsstatue in den Kameraausschnitt und macht dem Reisenden Doc den Bildraum streitig. Dazu bekennt Regisseur Robert Kramer aus dem off: „I was coming back, not home, just back“. Die Freiheitsstatue wird nicht das einzige Symbol strotzenden amerikanischen Selbstbewußtseins bleiben, mit dem der zurückkehrende Regisseur hadern wird.

Er hat zwei Jahrzehnte lang in Europa Filme gemacht und betritt mit Route One USA zum ersten Mal wieder den Boden seines Heimatlandes, das ihm ganz offensichtlich fremd geworden ist. Offiziell mag der Film eine französische Produktion sein, die Perspektive des Regisseurs mag europäisch gebrochen sein, und dennoch wird Route One USA durchatmet von uramerikanischen Obsessionen: von der unbändigen Neugier auf das eigene Land, dessen vielgestaltige Erscheinungsformen als überwältigend und unbegreiflich erfahren werden, von dem Mythos der Mobilität. Und der Unmöglichkeit, heimzukehren.

Einst, in den 30er Jahren war die Nationalstraße 1 die meistbefahrene der Welt, heutzutage haben ihr die High- und Freeways den Rang abgelaufen. Kramer ist also einem Anachronismus auf der Spur: einem traditionsreichen Streifen Asphalt, der sich von der kanadischen Grenze hinunter nach Key West erstreckt und mitten durch das Herz des amerikanischen Selbstverständnisses schneidet.

Doc, unser Reisebegleiter, vorgeblich ein Arzt und Filmemacher (tatsächlich ist es aber unerheblich, ob er eine fiktionale Figur ist oder wirklich eine Reise in seine Vergangenheit unternimmt) hat sich Walt Whitmans Grashalme als Reiselektüre mitgenommen: als Erinnerung an einen Traum von einem besseren Amerika. Später wird er Whitmans Wohnhaus besuchen, das zu einem Museum ungewandelt wurde, und wird feststellen, daß es gerade geschlossen ist. Vergangenheit und Gegenwart greifen auf dieser Reise in mehr als einer Weise ineinander. Sie führt durch Concord, den Entstehungsort von Thoreaus Walden, seinerzeit eine kontroverse Utopie, heute in der Tradition kanonisiert und entschärft.

In Salem, dem berüchtigten Schauplatz puritanischer Hexenverbrennungen des 17. Jahrhundert, stößt Kramer auf sehr reale, selbstbewußte Hexen des 20. Jahrhunderts: „Egal, ob die Leute daran zweifeln, daß es uns gibt. Wir existieren und das ist doch Beweis genug, oder?“. Erinnerungen an vermeintlich heroische Epochen (das Wirken des Sklavenbefreiers John Brown in Boston und die Gründung des ersten farbigen Kavallerieregiments des Bürgerkriegs) und unheroische Epochen (Doc entdeckt auf der Namenstafel des Vietnamdenkmals in Washington die Namen gefallener Freunde). Auch dies eine amerikanische Obsession: die Suche nach den Wurzeln.

Wie Marcel Ophüls ist der Interviewer Kramer ein großer Verführer: er versteht es, seinen Gesprächspartnern so viel Vertrauen einzuflößen, daß sie ihm bereitwillig und arglos von sich erzählen, ohne zu bemerken, daß aus ihrer Selbstdarstellung Selbstenthüllung wird. Ungeniert offenbaren sie ihre Borniertheit und Bigotterie, ihren unreflektierten Patriotismus und ihre kleinstädtische, religiöse Wohlanständigkeit. Wenn sich Kramer anfangs auf die Suche nach dem amerikanischen Selbstverständnis gemacht haben sollte, wird er sehr schnell festgestellt haben, daß er ihm nicht entkommen kann.

Kramer ist ein scheinbar großzügiger Interviewer, er erlaubt seinen Gesprächspartnern, vor der Kamera eigene Konturen zu gewinnen: den unbestechlichen Gesichtsausdruck der greisen Indianerin, die sich beharrlich Kramers Kamera und Mikrofon verweigert, werde ich so bald nicht vergessen. Kramer scheint eine Klapperschlange, die sich während des Hypnotisierens in ihr Opfer verliebt hat. Dennoch lenkt er unsere Wahrnehmung, teils subtil vermittels der Montage, teils drastisch vermittels der Tondramaturgie, die die Erzählungen einfach übertönt und abbricht, in die von ihm gewünschte Richtung.

Route One USA folgt der entspannten Dramaturgie eines road movies und bezieht seine Dynamik aus dem Wechselspiel zwischen der Bewegung und dem Verweilen an einem Ort. Unmöglich, die Facetten des Absurden, des Kuriosen und des Verstörenden aufzuzählen, die er beiläufig während der Fahrt entdeckt. Am stärksten ist der Film freilich, wenn er sich Zeit läßt für einen Schauplatz wie Bridgeport, dessen soziale Spannungen er eindringlich auffächert. Und wenn er uns die Zeit gibt, Figuren kennenzulernen, bis sie fast zu alten Bekannten werden. Wie z.B. das ältere Ehepaar, das bei der Exegese der Bibel und Websters Dictionary gleichermaßen streng auf die Wahrung der Grundwerte achtet.

Als wir den beiden Patrioten später bei einer Demonstration gegen Abtreibungen und auf einer Wahlveranstaltung des händeschüttelnden und babystreichelnden Fundamentalisten Pat Robertson wiederbegegnen, haben wir das Gefühl schon sehr genau zu wissen, weshalb sie dort sind. Aber da geht die Reise auch schon wieder weiter.

Gerhard Midding

Robert Kramer, Route One, USA, Frankreich 1989, 240 Minuten

15.2. Delphi, 11 Uhr

15.2. Arsenal, 22.30 Uhr

16.2. Akademie der Künste, 17 Uhr