Fehlende Flexibilisierung der Tarifparteien

Nach wie vor übt Gesamtmetall in der gegenwärtigen Tarifauseinandersetzung Selbstbeschränkung bei ihrer sturen Ablehnung einer Arbeitszeitverkürzung auf die 35-Stunden-Woche / Aber auch die IG Metall zeigt sich überfordert, zum Beispiel bei der Frage der Flexibilisierung der Arbeitszeitregelung  ■  Aus Hamburg Florian Marten

„Warum aktualisieren die Gewerkschaften die Arbeitszeitsfrage in so großen Zeitabschnitten?“ durfte sich Ende 1983 in der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ verwundert der Duisburger Betriebswirtschaftsprofessor Staudt fragen. Damals begannen die öffentlichen Auseinandersetzungen um den Einstieg in die 35-Stunden -Woche. Staudt präsentierte in der 'FAZ‘ unter der Überschrift Arbeitszeitverkürzung als Rationalisierungspeitsche die Ergebnisse einer Analyse betrieblicher Umsetzungsstrategien von reduzierter Arbeitszeit.

Arbeitszeitverkürzung, so Staudt, sei die normalste Sache der Welt. Sie begleite den Fortschritt in der Produktivitätsentwicklung. Völlig unverständlich war Staudt schon damals der „vehemente, mitunter sogar irrationale Widerstand der Arbeitgeberseite gegen Arbeitszeitverkürzungsmaßnahmen“. Er konstatierte im Unternehmerlager eine „Überforderungsreaktion“, eine unverständliche Angst, den „organisatorischen Wandel“ zu packen. Die „Tabuisierung“ der 35-Stunden-Woche durch die Unternehmer sei Zeichen für ein „Innovations- und Management -Defizit“ in der deutschen Industrie.

Arbeitszeitverkürzung geht einher mit Rationalisierung

Dabei ermögliche es gerade der „ökonomische Sachzwang“, Arbeitszeitverkürzung in Produktivitätsfortschritt und diese wiederum in Arbeitsplätze umzusetzen. Empirisch zeige sich, so Staudt, daß ein kontinuierlicher Prozeß der Arbeitszeitverkürzung von fortlaufender Rationalisierung begleitet werde: „Es ist deshalb unsinnig, einen Gegensatz zwischen Arbeitszeitverkürzung und Rationalisierung herzustellen.“ Beides gehöre zusammen.

Als optimal empfahl Staudt den Unternehmern einen kontinuierlichen Prozeß der Arbeitszeitverkürzung in kleinen Schritten. So ließen sich die Anpassungsprozesse optimieren. In einem „dynamischen Prozeß“ würden die Unternehmen beschleunigt in neue Produktionsverfahren und neue Formen der Arbeitsorganisation einsteigen. Es werde in den Betrieben dann nicht bloß zu einer zeitlichen Vorverlegung bereits geplanter Rationalisierungsvorhaben kommen, sondern zu einem qualitativen Sprung in neue Formen der Produktion und Arbeitsorganisation.

Der Betriebswirtschaftler prophezeite als voraussehbare Folgen der Arbeitszeitverkürzung:

-Entkoppelung von Arbeitszeit und Betriebszeit

-Flexibilisierung der Arbeit

-beschleunigten Ersatz menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen

-eine verstärkte Anpassung der menschlichen Arbeit an die Bedürfnisse der Maschinen

-verstärkte Auslese der Belegschaften moderner Betriebe

-mehr maschinengerechte Produktionslinien

kurz: „die extensive Ermöglichung neuartiger, bisher technisch und wirtschaftlich nicht realisierter Produktionsverfahren“.

Boom statt Pleite

Staudt sollte recht behalten: Die schrittweise Arbeitszeitverkürzung, 1984 von der IG Metall und der IG Druck in harten Arbeitskämpfen erzwungen, trug mit dazu bei, das Wirtschaftswunder zwischen 1986 und 1990 zu ermöglichen. Statt ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit einzubüßen, wie es das Unternehmerlager 1984 behauptet hatte, kletterte die Bundesrepublik auf einen neuen Gipfel ihrer internationalen Wirtschaftsmacht:

Die Ausfuhrüberschüsse wuchsen in schwindelerregende Höhen. Die BRD avancierte vor den USA und Japan zum Exportweltmeister. Der Export erwies sich als Motor der überschäumenden Konjunktur. Gerade auch in der Metallindustrie, die noch bei den Tarifauseinandersetzungen 1984 auf ihre besonderen Probleme in den strukturkrisengeschüttelten Alt-Branchen Stahl und Werften verwiesen hatte. In Nordrhein-Westfalen und im Saarland floriert heute die Stahlindustrie, in Norddeutschland platzen die Auftragsbücher der Werften.

Geradezu grotesk mutet es an, wie der Arbeitgeberverband Nordmetall, der dieses Jahr den Tarifstreit eröffnen durfte, am 10.Januar auf die Forderung der „IG Metall Küste“ nach Einführung der 35-Stunden-Woche reagierte: „Jede weitere Arbeitszeitverkürzung wird zu einer Selbstbeschränkung im internationalen Wettbewerb. Und Arbeitszeitverkürzung heißt auch Verzicht: Verzicht auf Wohlstand, auf Einkommen, auf Steuereinnahmen mit allen Folgen für unsere Volkswirtschaft.“ Und die Nordmetall-Zeitschrift 'Standpunkte‘ behauptete ungeniert: Arbeitszeitverkürzung führe zu einer „künstlichen Verknappung der ohnehin zu kurzen Arbeitszeit, zum Lohnverzicht der Arbeitnehmer, dem zunehmenden Mangel an Fachkräften, der Verschlechterung der deutschen Wettbewerbsposition gegenüber den anderen Industrieländern, die ihre Arbeitszeit nicht reduzierten“.

Mit ironischem Unterton fragte Frank Teichmüller, Chef der IGM Küste, wie es denn sein könne, daß die Unternehmer nach wie vor behaupten, Arbeitszeitverkürzung schaffe keine Arbeitsplätze, gleichzeitig aber einräumten, daß Facharbeitermangel wegen der Arbeitszeitverkürzung bestehe. Und: In fast allen Industrieländern geht die Arbeitszeit kontinuierlich zurück. „In der Bundesrepublik wird keineswegs am kürzesten gearbeitet“, lautet das Ergebnis einer detaillierten Untersuchung der Arbeitszeitentwicklung in Europa, die das gewerkschaftliche Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) im Oktober 1989 veröffentlicht hat. Im europäischen Vergleich liegt die Bundesrepublik auch nicht an der Spitze der Arbeitszeitverkürzung. Allerdings: Die Arbeitszeitverkürzung vollzieht sich auf sehr unterschiedliche Weise. Das reicht von Verlängerung des Urlaubs, Frühverrentung, Überstundenpraxis, Grad der Teilzeitbeschäftigung, über den Erziehungsurlaub und andere Freistellungsregelungen bis zu der Vielzahl gesetzlicher Arbeitszeitänderungen. Auffällig aber ist, daß es fast immer die exportstarken Schlüsselindustrien sind, die an der Spitze der Arbeitszeitverkürzung marschieren.

Gewinne dank 37-Stunden-Woche

Wenigstens empirisch scheint festzustehen: Je moderner und weltmarkttauglicher die Industriebranche, desto kürzer ihre Arbeitszeit. Je höher also die Produktivität, desto mehr ökonomischer Spielraum für Arbeitszeitverkürzung.

Und so hat die Verringerung der Arbeitsstunden auch nachweisbar Arbeitsplätze geschaffen, wie selbst das Unternehmerlager einräumt, wenn es nicht gerade öffentliche Stellungnahmen in Tarifkonflikten absondert.

IGM-Bundesvorständler Nicolaus Schmidt hat in einer differenzierten Auswertung der Auswirkungen der 37-Stunden -Woche in den Metallindustrie resümiert. So habe die zweimalige Kürzung der Wochenarbeitszeit seit 1984 um je 1,5 auf heute 37 Wochenstunden rund 200.000 Metallarbeitsplätze geschaffen. Die restlichen 200.000 der seit 1984 neu geschaffenen Stellen sind dem Wirtschaftsboom zu verdanken. Damit bestätigt sich die durch empirische Untersuchungen erhärtete Faustformel, daß Arbeitszeitverkürzung zu 50 Prozent durch neue Arbeitsplätze aufgefangen wird. Die andere Hälfte kassiert das Kapital durch Rationalisierung und Produktivitätssteigerung.

Zusammen mit dem Lohnverzicht, den die Arbeiter durch unterdurchschnittliche Lohnsteigerungen üben, summiert sich das, wie Schmidt zu Beginn der laufenden Tarifrunde einräumte, zu einer gravierenden Umverteilung von unten nach oben: Während die Metaller-Einkommen 1987 noch spürbar stiegen, lagen sie 1988 nur noch knapp über dem Geldwertverlust. 1989 ergab sich laut Schmidt gar ein „Reallohnverlust“.

Da gleichzeitig die Gewinne mit jährlich zweistelligen Zuwachsraten förmlich abhoben, kann es nicht verwundern, daß 1989 die bereinigte Lohnquote (Anteil der Arbeitseinkünfte am Volkseinkommen) auf einen historischen Tiefstand in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sank. Und das trotz eines kräftigen Anstiegs der Zahl der Beschäftigten. Im Klartext: Immer mehr ArbeiterInnen erhalten einen immer geringeren Teil vom Volkseinkommens. Allein 1989 stiegen die Nettogewinne mit elf Prozent fast dreimal so stark wie die Lohneinkommen (vier Prozent).

Auch die Gewerkschaften sind wenig flexibel

Die auf lange Sicht vielleicht einscheidenste Auswirkung der Arbeitszeitverkürzung dürfte aber die Umstellung der althergebrachten bundesdeutschen Arbeitszeitordnung darstellen, die unter dem Stichwort „Flexibilisierung“ läuft. So räumte jüngst selbst das WSI ein: „Die Arbeitszeitverkürzungen wurden gegen eine Flexibilisierung getauscht.“ Dabei haben sich bislang überwiegend die Unternehmerinteressen durchgesetzt, die eine maschinen- und kapitalorientierte Flexibilisierung durchsetzen konnten. Da es an präzisen gesetzlichen Regelungen fehlt, wurde die Entscheidung über eine Flexibilisierung oft auf die betriebliche Ebene verlagert. Bestes und jüngstes Beispiel ist der Einzelhandel, wo der lange Donnerstag gegen alle Bemühungen der Gewerkschaften zu einer Vielzahl der unterschiedlichsten Regelungen auf Betriebsebene geführt hat. Die Prophezeiungen des Duisburger Betriebswirtschaftlers Staudt von 1983 haben sich auch hier als zutreffend erwiesen.

Um so erstaunlicher, daß weder Gewerkschaften noch Unternehmer in ihren Strategien, Argumenten und Tarifzielen die tatsächlichen Entwicklungen seit 1984 angemessen berücksichtigen. Eine weitere Arbeitszeitverkürzung in kleinen Schritten, verbunden mit einem möglichst hohen Lohnverzicht, müßte das Topziel der Unternehmer sein. Die derzeit aus dem Unternehmerlager oft geäußerte These, man müsse jetzt hier länger arbeiten, um der DDR helfen zu können, stellt die Verhältnisse auf den Kopf. Die DDR krankt doch gerade daran, daß für ein bescheidenes Produktionsergebnis viel zu lange und viel zu materialintensiv gearbeitet wird.

Schon 1984 hatten linke KritikerInnen die IG Metall gewarnt: Nur eine Arbeitszeitverkürzung in großen Schritten bringe schnell und zahlreich neue Arbeitsplätze, enge den Spielraum der Unternehmer ein, sie als Umverteilungsinstrument und Rationalisierungspeitsche zu mißbrauchen. Doch auch die aktuelle Tarifauseinandersetzung steuert auf die alte Formel „Lohnverzicht plus Arbeitszeitverkürzung in kleinen Schritten“ zu.

Hoffnungslos überfordert zeigen sich die Gewerkschaften auch, wenn es darum geht, dem von ArbeiterInnen geäußerten Bedürfnis nach flexibleren Arbeitszeitregelungen nachzukommen. Humanisierung durch flexible Arbeitszeiten, auch das wäre vorstellbar: zum Beispiel durch Freistellungsansprüche in bestimmten Lebenslagen, durch freigewählte Arbeitszeit (Woche, Jahr, Leben), das heißt, durch eine von den Arbeitenden selbstbestimmte Arbeitszeit. Ganz besonders gilt dies für das Verhältnis zwischen den Geschlechtern: Nur eine radikale Verkürzung und sozial orientierte Flexibilisierung der Erwerbsarbeit kann für mehr Gerechtigkeit in der Lebensgestaltung der Frauen führen.

Was Staudt den Unternehmern in Sachen Arbeitszeitverkürzung vorwarf, nämlich „Tabuisierung“ und „irrationalen Widerstand“ als Indiz für eine Überforderungsreaktion und mangelnde Innovationsfähigkeit, gilt weitgehend auch für die Gewerkschaften im Umgang mit der Flexibilisierung der Arbeitswelt. Ein Umdenkungsprozeß hat hier jetzt allerdings eingesetzt.