„Ich glaub‘, ich bin im Osten!“

■ Eindrücke eines Westlers, der zur Zeit für einige Wochen in Ost-Berlin lebt / Hartnäckige Mißstände sticheln die Bleibenden weiter / Die „Türken der DDR“ und Angst vor Arbeitslosigkeit / Stasi in neuer Uniform? / Trubel wie in alten Zeiten

Klack! Der Paß ist gestempelt. Mit freundlichen Wünschen des Grenzers für einen schönen Aufenthalt fahre ich die bereits dämmrige Bornholmer Straße hinunter, durchquere das Häusermeer des Prenzlauers Bergs und schließe endlich „meine“ Wohnungstür auf. Für die Suche nach einer Wohnung im aufbrechenden (West-)Berlin hat mir ein Bekannter für einige Wochen seine Wohnung im anderen Teil der Stadt angeboten.

Forsch und etwas unsicher zugleich betrete ich die „Einraumwohnung“, packe schnell einige Sachen aus und will Freunde in West-Berlin anrufen. Fehlanzeige: Die Leitungen sind jetzt wie auch später ständig besetzt. Um nicht für ein Verkehrsvergehen gleich wieder mit 50 Mark (West) belangt zu werden, erkunde ich Ost-Berlin vorerst zu Fuß und mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

Der Wahlkampf wirft bereits seine Schatten. An vielen Stellen hängen Plakate der Parteien - besonders der CDU mit den Konturen eines vereinten Deutschlands aus DDR und Bundesrepublik. Die Unterzeile „Umkehr in die Zukunft“ sticht ins Auge. Wer umkehrt, geht zurück, denke ich und: Wir können in der Zukunft doch begangene Fehler vermeiden. Außerdem fehlt in der CDU-, aber auch der SPD-Werbung jegliche Freude an einem Aufbruch.

Überhaupt Freude: Die fröhliche und kraftvolle Ausstrahlung der Ostberliner in den Novembertagen in Erinnerung, vermisse ich jetzt wirkliche Zuversicht, selbst wenn sie mit Angst vor der Zukunft durchwachsen wäre. Statt dessen viele mißmutige Gesichter. Im Gespräch mit einer jungen Verkäuferin in der Markthalle am Alex erfahre ich erste, scheibchenweise Begründungen.

Sie beklagt, daß sich an den mißlichen Verhältnissen „fast nichts geändert“ habe. Durch Abwandern vieler Mitarbeiter sei die Arbeitsbelastung weiter angewachsen. Im Kollegenkreis wage niemand eine Beschwerde, weil der Chef noch immer die Fäden fest in der Hand halte. „Wie im Westen“, sage ich, als sie schließlich erzählt, daß sie sich trotz Schwangerschaft und Überstunden in ihrem Stand nicht hinsetzen dürfe.

Wie groß die Wut vieler DDR-Bürger auf ihren Staat ist, zeigt das permanente Bestreben einiger, DDR-eigene Produkte schlecht zu machen, sei es beim Essen oder vor Schaufenstern.

Daß die Arbeitsmoral durch vielerlei Mängel bis hin zu Details stark angegriffen ist, erklären mir Bauarbeiter am immer noch gesperrten U-Bahnhof „Französische Straße“ in der Friedrichstraße. Spätabends sind sie damit beschäftigt, Steine in den U-Bahnschacht hinunterzuschleppen, die zum Bahnhof Friedrichstraße sollen. Sie wurden fälschlich hier abgeladen und werden nun per Bauzug eine Station weitergefahren. „Ich glaub‘, ich bin im Osten“, kommentiert ein junger Arbeiter seine an den Schelm Till Eulenspiegel erinnernde Nachtschicht-Tätigkeit.

Überall in der Stadt stehen Bauwagen, dennoch scheint der trostlose Zustand vieler Straßen beispielhaft für den ganzen Staat und die Wirtschaft zu sein: Die „Rekonstruktionen“ kommen gegen den Verfall nicht an, sogar vor wenigen Jahren sanierte Häuser zeigen bereits wieder Mängel. Die Trostlosigkeit vieler Gegenden muß die grellen Leuchtreklamen im Westen geradezu als leuchtende Beispiele westlicher Überlegenheit erscheinen lassen.

Verständlich angesichts aller Erfahrungen und Enthüllungen, daß die Menschen derzeit beinahe wie „gedopt“ wirken, keine Energie mehr für einen „dritten Weg“ aufbringen wollen und überwiegend für den Anschluß an die bunte Bundesrepublik sind.

Hilflosigkeit scheint derzeit weit verbreitet und äußert sich auf zweierlei Art: So werde ich gefragt „Was würden Sie denn wählen?“, und andererseits weisen einige DDR-Bürger meine warnenden Hinweise zu beabsichtigten Grundstücksverkäufen oder zum Erwerb und Umbau eines Restaurants entrüstet zurück.

Der Abschied vom Althergebrachten ist immer wieder zu spüren. Das geht bis zu täglichen Kleinigkeiten. An verschiedenen Zeitungskiosken merke ich, daß die Käufer die PDS-Zeitung 'Neues Deutschland‘ meiden. Mit einem informationshalber gekauften 'ND‘ unterm Arm komme ich mir auf der Straße und in der Bahn deplaziert vor. Äußerungen von Gesprächspartnern fallen mir ein wie: „Jetzt wird es anders, und dann schmeißen wir die Kommunisten raus!“

Genährt wird solche Stimmung auch durch verbreiteten Ärger über Grenzkontrollen, besonders im Bahnhof Friedrichstraße, der noch immer den Charme eines Vieh-Verladeplatzes besitzt. „Unter den Grenzern sind doch jetzt überall Stasi-Offiziere, die haben nur die Uniform gewechselt“, mutmaßt ein Mittvierziger im Gespräch mit seinen Bekannten. Neben den mürrischen gibt es aber wieder viele freundliche Grenzer, von denen einige sogar freimütig ihre Angst vor Entlassungen äußern. „Halten Sie mir einen Arbeitsplatz frei“, ruft mit einer von ihnen nur halb im Scherz zu.

Ganz im Kontrast zu den immer noch öden Grenzbereichen steht das Treiben auf dem Alexanderplatz. Gerade am Wochenende fallen die vielen Vietnamesen auf. Polyglotte Gedanken vertreibt eine Bekannte, frühere DDR-Bürgerin: „Die Vietnamesen sind die Türken der DDR“, sagt sie bedauernd, „die kleben zum Beispiel in Schuhfabriken die Absätze an.“

Aus dem Westen vertraut ist mir dann auch die Szene im Pissoir am Alex: Mehrere Männer stehen dicht nebeneinander und sehen sich, schnell und ruckartig die Köpfe drehend, ihre fünfte Extremität an, so als ob Boris Becker auf dem Centre Court spielen würde.

Großstadtgewühl herrscht in der großen Cafeteria am Alex. Mir schräg gegenüber sitzt eine wohlgenährte Polin vor geleertem Tablett und zerfetzt während des Sprechens ein Brötchen, als habe sie drei Wochen lang nichts gegessen. Doch während man sich im Westen über diese Szene wenigstens amüsieren würde, scheint hier niemand Notiz zu nehmen. Zu facettenreich ist das Treiben in dem eigentlich düster wirkenden Selbstbedienungsrestaurant.

Trippelt doch nebenan ein Mann im Pensionsalter auf seinen Füßen hin und her, das freundliche „Na, junger Mann, keinen Platz gefunden?“ einer Abräumerin sowie freie Plätze ignorierend, und nippt lächelnd an seinem Bier. Nur einen Tisch weiter bietet gerade ein älterer Westler in Malteser -Uniform einem arabischen Ehepaar gestenreich Papierservietten an, als gälte es, auf einer Varietebühne ständig neue Papierblumen aus dem Ärmel zu zaubern.

Bei diesem Trubel inmitten von Resignation und Hoffnung fällt mir plötzlich ein Satz von Heinrich Zille über seine Berliner ein: „Det is mein Milljöh.“

Karsten Peters