VOM ANSEHEN

■ Anmerkungen zu einer Präsentation von Dokumentarfilmen aus dem Jahr 1945

Der Frühling sei in diesem Jahr in Berlin besonders üppig gewesen, werden zeitgenössische Beobachter zitiert, alles habe geblüht und sei gewachsen wie nie zuvor. Gelöste, lächelnde Gesichter kann man in den Dokumentarfilmen aus den Monaten nach Kriegsende mitunter schon finden, aber noch mehr erschreckte, abgehärmte, mißtrauische. Freilich leuchten sie immer auf vor der Kamera der amerikanischen Filmleute, wenn diese nicht nur ein wiedererwachtes Interesse, sondern Chewinggums und Brot zu bieten haben.

Die Auswahl der Dokumentarfilme bei dieser Veranstaltung setzt sich zusammen aus amerikanischem Propagandamaterial und von deutschen Amateurfilmern gedrehten Kurzfilmen. Der erste Film, von US-Soldaten aufgenommen, dokumentiert die Öffnung des Konzentrationslagers Dachau, das noch vor München von den Amerikanern befreit wurde. Und sofort stellt sich das Problem von Dokumentaraufnahmen ein: man hat vieles immer schon irgendwo gesehen. Die hohlwangigen Gesichter der Lagerinsassen von Dachau und die Leichenberge - man kennt die Mahn-Bilder; der Schrecken wird zur Gewohnheit, bleibt abstrakt. Die Bilder werden mitteilungslos.

Und auch die Bilder der fensterlosen Häuserfronten, der zerbombten Dächer und der Mauern ohne Innenleben sind vor allem nur schön. Die Nachkriegskulisse Berlin hat man schon dramatischer eingesetzt gesehen in Billy Wilders Foreign Affair; die Ruinen haben mehr zu uns gesprochen in Rosselinis Germania Anno Zero als in der vorgeführten summarischen Draufsicht aus einer Automatikkamera, eingebaut in ein amerikanisches Flugzeug.

Das Besondere und Nicht-Repräsentative wird eher in den kurzen Streifen der Amateurfilmer gezeigt. Frau Wilms‘ Bilder von dem Nachkriegsalltag in Dortmund zeigen keine lächelnden Gesichter, sondern das auf fast nichts reduzierte Leben: Frauen, die vor den offenen Wohnungen auf Treppen sitzen und geklaute Kartoffeln schälen, Kinder, die in Abfallhaufen wühlen, Flüchtlinge, die ihre Handkarren ziehen, und so fort. Und immer wieder tastet die Kamera die Wände ab, blickt sie ungläubig auf das Ausmaß der Zerstörung.

Ein Münchner Amateurfilmer hat sich die Fronleichnamsprozession des Jahres 1945 als Symbol des Neubeginns angelegen sein lassen: er zeigt die groteske Szenerie einer sich durch Schutt und Asche vorschiebenden Karawane aus Nonnen und Geistlichen. Unbeabsichtigt entfaltet sich eine melancholische Korrespondenz zwischen der im Freien begangenen Feierlichkeit und den herabblickenden Kirchen, von denen oft nurmehr das Gehäuse oder die Rückwand stehengeblieben sind. Immer wieder blendet der Filmemacher den samt Kreuz abgestürzten Christus ein, der mit gesprungenem Leib am Boden liegt.

Berlin 1945, wieder aus einer amerikanischen Kamera: noch sieht man Frauen Holz aus dem Reichstag schleppen, noch stehen die Ruinen des Berliner Schlosses, der Reichskanzlei, des Reichssportfeldes und des Berliner Sportpalastes. Kühe werden durch die Berliner Straßen getrieben, und Polizisten regeln den spärlichen Verkehr der Handkarren und Kinderwagen, da wirbt schon jemand für die Wiedereröffnung einer Parfümerie; und während die Frauen noch dabei sind, den Schutt abzutragen, sieht man sie im nächsten Moment schon in Hüten und luftigen Kleidern spazierengehen. Sie haben sich die Haare zu neuen Tollen gedreht, schon blüht der Neubeginn auf ihrem Gesicht.

Man hat allen Dokumentarfilmen für diese Veranstaltung den Ton entzogen, um die Bilder in ihrer reinen Kraft ohne schmierigen Kommentar zur Wirkung zu bringen. Das Beste, was der an seine Stelle getretene Kommentator Herr Kurowski, Dozent an der Münchner Filmhochschule, zu bieten hat, sind zwei Bemerkungen von Karl Valentin. Von Liesl Karlstadt befragt, was denn Dachau sei, antwortete Valentin ungefähr so: eine Anlage, die scharf bewacht ist von Männern mit Maschinengewehren und bissigen Hunden, aber ich schwöre dir, wenn ich rein will, komm‘ ich rein.

Im Hinblick auf den Dokumentarfilm von Frau Wilms zum Beispiel glaubt der Kommentator, von einem weiblichen Hang zum Monumentalen sprechen zu müssen, und zitiert als Beleg Gertrud Kolmar, die gesagt habe, daß „die weibliche Kreativität mit Türmen umgürtet sei“. Wenigstens die Schlußbilder der amerikanischen Kamera, die aus zunehmender Ferne die Ähnlichkeit des Heers der Trümmerfrauen mit einem Ameisenhaufen deutlich macht, straft derlei Aussagen Lügen. Besser wäre es, der Kommentator wäre bei Karl Valentin geblieben, der, als er nach dem Krieg am Münchner Friedensengel vorbeiging, fragte: „Und der, was hat der eigentlich all die Jahre über getan?“

Michaela Ott