Momper als Bürgermeister von Groß-Berlin

■ Die Ostberliner Stadtverordnetenversammlung könnte nächste Woche die Zwangsteilung der gemeinsamen Berliner Verwaltung durch die SED rückgängig machen / Der Regierende Bürgermeister von West-Berlin wäre dann automatisch Oberbürgermeister von Gesamtberlin

Seit dem Fall der Mauer haben Szenarien in Berlin Hochkonjunktur - warum nicht auch dieses: Wenn die Ostberliner Stadtverordnetenversammlung irgendwann nächste Woche zusammentritt, um den Rücktritt von Oberbürgermeister Krack entgegenzunehmen, könnte sie auch einen folgenschweren Beschluß aus dem Jahre 1948 zurücknehmen, der die Teilung der Berliner Verwaltung zementierte. Wie berichtet, ist Oberbürgermeister Krack wegen des Vorwurfs der Wahlfälschung bei den letzten Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 derzeit von seinem Amt beurlaubt. Sollte sich der Magistrat, wie von der Ostberliner SPD gefordert, auflösen, könnte - das Einverständnis der Sowjets vorausgesetzt - in diesem Moment Walter Momper zum Regierenden Bürgermeister von Groß-Berlin werden. Was sich für viele vermutlich noch wie ein utopisch anmutendes Szenario ausnimmt, ist zumindest staatsrechtlich denkbar.

Die Stadtverordnetenversammlung könnte auf ihrer nächsten Sitzung den Beschluß der außerordentlichen Sitzung vom 30. November 1948 zurücknehmen, in der im Ostsektor der Stadt der 1946 gebildete Gesamtberliner Magistrat für abgesetzt erklärt wurde. Auf dieser schicksalsträchtigen Versammlung waren zwar über 1.500 Delegierte anwesend, stimmberechtigt waren aber nur die 23 SED-Abgesandten sowie 213 Vertreter des sogenannten „Demokratischen Blocks“. Gemeinsam erklärten sie die letzte von allen Berlinern gewählte Stadtverwaltung für abgesetzt und bildeten einen „provisorischen demokratischen Magistrat“ für Ost-Berlin, an dessen Spitze der Sohn des früheren Reichspräsidenten Friedrich Ebert stand. Dieser Magistrat tagte im Osten zunächst für mehrere Jahre ohne Stadtverordnetenversammlung, die im Jahr 1948 in die Westsektoren ausgelagert worden war. In Ost-Berlin wurden Wahlen zum Stadtparlament erst 1953 wieder zugelassen, zum ersten Mal gewählt wurde 1954 nach Einheitsliste. Friedrich Ebert war noch bis 1967 Oberbürgermeister, ihm folgte Herbert Fechner und 1974 Erhard Krack, alle SED-Mitglieder.

In den Westsektoren fanden 1948 Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung (dem späteren Abgeordnetenhaus) statt, die Ernst Reuter zum ersten Oberbürgermeister wählte. Am 1. September 1950 verabschiedete das West-Parlament die Verfassung von Berlin, die heute noch gültig ist und aufgrund der politisch einmaligen Lage der Halbstadt voller schwieriger Rechtskonstruktionen steckt. Nach westlicher Rechtsauffassung - sie wird sowohl von den drei Westmächten als auch vom Senat vertreten - ist der amtierende Regierende Bürgermeister automatisch Bürgermeister von Gesamtberlin. Von der Sowjetunion und der Ostberliner Stadtverwaltung wurde dieser Anspruch bisher nicht anerkannt. Insofern beruft sich Walter Momper derzeit mit gutem Grund - wie selbst die Justitiarin der diese Haltung scharf kritisierenden AL einräumt - auf ein politisches Mandat für Gesamtberlin.

Würde also die Stadtverordnetenversammlung in Ost-Berlin ihre gewaltsame Auflösung von 1948 per Mehrheitsbeschluß rückgängig machen, könnte sie Delegierte ins Abgeordnetenhaus schicken. In diesem Fall hätte Berlin wieder eine gemeinsame Verwaltung - zumindest theoretisch. Automatisch träte dann die bestehende Verfassung von West -Berlin für die gesamte Stadt in Kraft, denn sie legt in Artikel 4 fest, daß sie für das Gebiet von Groß-Berlin gültig ist. Groß-Berlin besteht nach dieser Definition aus 20 Bezirken und ist historisch eines der fünf Länder der DDR, die heute faktisch nicht mehr existieren, rechtlich aber nie aufgelöst wurden und zu den Wahlen restituiert werden sollen.

Im Berliner Senat ist man sich nach Auskunft des Presseamtes dieses facettenreichen Problems durchaus bewußt, hofft aber, daß der Fall nicht eintreten wird. Allerdings will man auch dort nicht ausschließen, daß aufgrund möglicher akuter Notstände in Ost-Berlin ein solcher Schritt in die Wege geleitet werden könnte. „Wir wünschen stabile Zustände“ lautet die offizielle Senatslinie. In Ost-Berlin war gestern bei Redaktionsschluß immer noch kein Termin für die Sitzung der Stadtverordnetenversammlung bekannt. „Den Termin wüßten wir selber gern“, hieß es auf Anfrage der taz im Roten Rathaus. Die West-Alliierten haben sich nach Auskunft eines Sprechers über einen solchen Fall noch keine Gedanken gemacht. „Wir gehen immer davon aus, daß der Regierende Bürgermeister von West-Berlin zugleich Bürgermeister von ganz Berlin ist“, hieß es dort gegenüber der taz. Von sowjetischer Seite war keine Stellungnahme zu erhalten. Der Viermächte-Status der Stadt wäre von unserem Planspiel ohnehin nicht berührt.

Kordula Doerfler