Die Treulosen in der Literatur

■ „Liebesverrat“ - eine Studie von Peter von Matt

Mit dem provozierenden Satz „Wer liebt, hat recht“ eröffnet der Zürcher Germanist Peter von Matt, angesehener Kenner der Kreuz- und Querverbindungen zwischen Litreraturwissenschaft und Psychoanalyse, eine Studie über den Liebesverrat in der Literatur. Doch zwei Kapitel später läßt er der Provokation, ob nun zur Beruhigung der Moralanwälte oder zur Enttäuschung derjenigen, die für sich eine Art „Sentimentalitätsprivileg“ reklamieren, die Frage folgen: „Hat recht, wer liebt?“ In der Spannung zwischen Liebe und Ehe, Trieb und Ordnung, Leidenschaft und Ökonomie, Freiheit und Gesetz, kurz: zwischen Liebesverrat und Liebesvertrag ortet er jedenfalls die „Parade der Treulosen“ in der Literatur, die er inszeniert.

Nach seinem vermutlich zutreffenden Selbstverständnis ist das nicht zuletzt „ein Experiment im Bereich von Literaturwissenschaft und Moral“, das denn auch den eigenen subjektiven Faktor, die zweideutige Position des Wissenschaftlers erfreulicherweise nicht verleugnet. „Ein ruhiger Ehemann ist eine schöne Sache“, läßt er uns mit einem Hölderlin-Zitat ironisch und selbstironisch wissen. Erstaunlich nur, daß es offenbar keine (un)ruhigen Ehefrauen gibt.

Genau besehen, ist der so eindeutig anmutende Titel etwas irreführend: gemeint ist mit dem „Liebesverrat“ in erster Linie der Eheverrat, also der Verrat aus Liebe und Leidenschaft. Den zweiten Sinn von „Liebsverrat“: den womöglich mit der Ehe vollzogenen Verrat an der Liebe, dem gegenüber der „Ehebruch“ dann sozusagen als „sittliche Leistung“ dastehen kann, schließt von Matt aber durchaus ein. Man mag im Einzelfall rätseln, was jeweils unter der Bettdecke des Wortes steckt.

Im übrigen schreibt von Matt mit einer Prägnanz, oft Brillanz, die man bei seinen gelehrten Kollegen nur zu oft vermißt: Zähledrigkeit gilt für ihn offensichtlich nicht als Qualitätsnachweis. Leserfreundlich und lebendig ist sein Buch allemal: Die Lust, die es - neben den Tragödien der Liebe - darstellt, ist auch Stilkriterium. Und das ist nur um so plausibler, als sich dieser erklärt „unverdrossene Germanist“ mitsamt seiner Zunft von der Last befreit fühlt, „an der Selbstbewegung des Weltgeistes öffentlich mitzuwirken und so zu tun, als helfe man schieben“. Die „kurzfristigen akademischen Erlösungsbewegungen“ sind allem Anschein nach vorüber. Fragt sich nur, wo und wie man sich unerlöst, unbefreit eingerichtet hat...

Der Umfang des ausgebreiteten Wissens läßt ebenfalls kaum Wünsche offen: zwischen Homer und Hofmannsthal, Bocaccio und Bachmann, Moliere und Mörike, bei Aischylos, Tolstoi und Dürrenmatt bleibt kaum einer der bemerkenswerten Treulosigkeitsbeiträge der europäischen Literatur undiskutiert, obgleich dabei die deutschsprachige Literatur verständlicherweise im Mittelpunkt steht. Gewiß kann der Autor dabei nicht auf allen Feldern gleichermaßen zu Hause sein. Bei Hebbel etwa ist seine Deutung Leonhards in Maria Magdalena als Prototyp des neuen, kalt kalkulierenden Verführers, mit dem die Galerie der donjuanesken „schönen Schurken“ abbricht, im Detail ebenso anregend wie im ganzen willkürlich und auch an der Forschungssituation vorbei. Aber solche Mängelrügen können die Gesamtleistung nicht schmälern.

Auch die Durchdringung des riesigen motivgeschichtlichen Stoffes ist bemerkenswert. Die methodische Synthese literaturpsychologischer und sozialwissenschaftlicher Ansätze ist weder für die unbewußten seelischen Tiefendimensionen noch für die sozialgeschichtlichen und ideologischen Zusammenhänge des Themas blind. Ohne den Rahmen einer chronologischen Motivgeschichte zu haben, die ihr Sujet im Gänsemarsch der Epochen vorführen könnte, sind von Matts Gruppierungsversuche der diversen Ordnungen und ihrer erotischen Subversion meist gründlich und überzeugend.

Freilich erliegt von Matt gelegentlich der Verführung der Methode Prokrustes. Die geschichtliche Vielfalt geht nicht immer in der Wiederkehr des Gleichen auf. Und wenn von Matt Hochzeit (als Versöhnung), Mord (als Konflikt von Trieb und Ordnung) und Wahnsinn (als radikalen Austritt aus der Ordnung) als die drei „einzigen und ewigen Themen“ der Literatur etikettiert - wobei der Verrat aus Liebe und der an der Liebe offenbar jeweils einem Pol dieser motivgeschichtlichen Trinität zuzuordnen ist -, dann ist das doch etwas unterhalb der Fülle der Literatur. Es ist, als ob der Autor eine „polymorphe“ Großfamilie auf kleinfamiliale Verhältnisse herunterbrächte.

Halbwegs schlüssig wird es nur, wenn man, wie von Matt es tut, Literatur wesentlich von ihrem Ende her: als Form des Abschließenden, des Definitiven faßt, die das stets unabgeschlossene Leben nicht biete. Wo bleiben hier aber die offenen, die unschlüssigen Schlüsse, die gerade in der Moderne, ob nun bei Büchner oder bei Brecht, immer mehr Bedeutung gewonnen haben? Und wo bleibt bei diesem Verständnis die Literatur als Medium der Phantasie, das heißt gerade der Entgrenzung, der Aufschließung des scheinbar Abgeschlossenen - die Literatur, die sich dem bornierten Leben entgegenstellt, dem sie entspringt?

Diese Fixierung auf das Definitive ist schon erstaunlich bei einem Autor, der sonst so sehr die sprengende Bedeutung der Literatur betont und im Liebesverrat geradezu einen ihrer Existenzgründe sieht. An diesem Punkt scheint er selber so etwas wie einen Liebsverrat an der Literatur zu begehen, und zwar einen, der im Konflikt zwischen Trieb und Ordnung nur die letztere weiterbringt.

Das ist sonst keineswegs der Fall. Eindrucksvoll vielmehr zum Beispiel der Abgesang des Autors an all die Leichen der deutschen Literatur: „begeisterter, gefühls- und denkfähiger Wesen, in denen die Liebe als der in die Welt ausgegossene Gott sich selbst erfuhr und anheben wollte, das geknechtete, verkropfte und verkrüppelte Land zum irdischen Paradies umzuschaffen.“ Noch eindrucksvoller womöglich seine Negativlitanei der Hagestolze der deutschen Literatur, die gesellschaftlich reüssieren und erotisch scheitern. Und geradezu genüßlich, wenn er die Zunft daran erinnert, daß just der entscheidende Autor der Germanistik - Goethe, geradezu ein „Dichter des Liebesverrats“ - sie von ihren Gründerjahren an mit erotischer Amoral und Anarchie konfrontiert hat: das größte Beispiel die Wahlverwandtschaften, die in einer unerhörten Zuspitzung den seelischen Liebesverrat bei gleichzeitiger körperlicher Treue zu inszenieren wagen.

Bei den Wahlverwandtschaften ist es allerdings die zugleich liebende wie verzichtende Heilige Ottilie, in deren Zeichen dieses Buch über den Liebesverrat endet. Man liest es also wohl auf allen Ebenen am richtigsten als prägnanten Ausdruck einer ungelösten, vielleicht unlösbaren Ambivalenz.

Ludger Lütkehaus

Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. Carl Hanser Verlag, München 440 Seiten, 48 DM