Bonn weist Polen vom Einheitstisch

Bei der Bundestagsdebatte zur deutschen Einheit reagiert Kohl auf Ängste in der bundesdeutschen Bevölkerung / Kanzleramt lehnt Teilnahme Polens an künftigen deutsch-deutschen Konferenzen mit den Vier Mächten ab / Grüner Streit über Haltung zur Deutschlandpolitik  ■  Aus Bonn Charlotte Wiedemann

Bundeskanzler Helmut Kohl nutzte seine gestrige Regierungserklärung zur Deutschlandpolitik zu Beschwichtigungen in alle Richtungen: ins Ausland, in die DDR und an das heimische Wahlvolk. „Selbstverständlich“ würden die Sicherheitsbedürfnisse der europäischen Nachbarn respektiert, „selbstverständlich“ die Rechte der Vier Mächte geachtet. „Selbstverständlich“ auch werde den Rentnern in der DDR ihr Lebensabend sozial gesichert.

Und für die Bundesbürger ganz ausführlich: „Kein Rentner, kein Kranker, kein Arbeitsloser, kein Kriegsopfer, kein Sozialhilfeempfänger braucht Leistungskürzungen zu befürchten.“ Wie nötig diese Beruhigungsstrategie ist, bestätigte später die Freidemokratin Hildegard Hamm-Brücher, gerade aus dem bayerischen Kommunalwahlkampf zurückgekehrt: „Selten habe ich so viel Unruhe und Unsicherheit bei den Bürgern gespürt.“

Wie notwendig und zugleich wie hohl die Beschwichtigungen allerdings gegenüber dem Ausland auch sind, belegte in der gestrigen Debatte ein anderes Beispiel: Polen. Zum wiederholten Mal verweigerte die Koalition einen Schritt zur endgültigen Anerkennung der polnischen Westgrenze. Dabei hatte die SPD nur einen früheren Vorschlag der Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth (CDU) zum Antrag erhoben: Nach den DDR-Wahlen sollten beide deutsche Regierungen die polnische Grenze völkerrechtlich verbindlich bekräftigen. Bundeskanzler Kohl hatte hingegen während des Modrow-Besuchs erklärt, eine derartige Anerkennung sei erst Sache einer künftigen gesamtdeutschen Regierung oder eines gesamtdeutschen Parlaments.

Das Gauklerspiel um die sogenannte Oder-Neiße-Grenze wird noch auf einer anderen Ebene fortgesetzt. Die Bundesregierung lehnt die Forderung Polens ab, bei den künftigen Konferenzen von BRD, DDR und Vier Mächten mit einem Beobachterstatus teilzunehmen. Der polnische Ministerpräsident Mazowiecki hatte am Mittwoch den Wunsch geäußert, mit der Begründung: „Fragen, die unsere Sicherheit betreffen, können nicht von Stellvertretern entschieden werden.“ Aus dem Kanzleramt verlautete dagegen, die Teilnahme Polens sei nicht nötig, weil die Grenzfrage schon zuvor von den beiden deutschen Staaten gelöst werden müsse.

Außenminister Genscher lavierte im Bundestag über diese Widersprüche hinweg mit seiner aus Moskau und Ottawa bekannten Formel: Bei der Konferenz über die deutsche Einheit werde „kein Zweifel“ bestehen, „daß die beiden deutschen Staaten und Berlin vereinigt werden sollen, nicht mehr.“ Die Grünen kritisierten hingegen die „Blockade“ polnischer Interessen und teilten Mazowiecki in einem Telegramm die Unterstützung seiner Forderung mit. In einem Nebensatz hatte Kanzler Kohl zuvor eine weitere, für die Gestalt des künftigen Deutschlands nicht nebensächliche Frage abgehandelt: Eine Demilitarisierung werde es ebensowenig geben wie eine Neutralisierung. Weil beides ja nun nicht zusammenhängen muß, verflocht Kohl die Ablehnung von beidem mit einem kühnen Argument: All dies sei „altes Denken“.

Ein kalter Anschluß der DDR wurde gestern von den Grünen ebenso wie von der SPD abgelehnt. Die Grünen stellten stattdessen einen Antrag für ein demokratisches Procedere zur Wiedervereinigung, der sofort scharfen Protest einer Fraktionsminderheit auslöste. Das Grünen-Papier verlangt eine Volksabstimmung in beiden Staaten über Konföderation oder Vereinigung sowie über eine verfassungsgebende Versammlung. Eine deratige Verfassungsdiskussion könne „eine breite Auseinandersetzung“ über die „Gestaltung der Zukunft“ ermöglichen. Die Grünen-Abgeordneten Tay Eich, Siggi Frieß und Marie-Luise Schmidt kritisierten diesen Plan: „Auf die Kapitulationserklärung gegenüber der nationalen Welle erfolgt nun der erste Schritt auf dem Weg des Mitgestaltens der deutschen Einheit.“