Die Gegenwart des Vergangenen

■ Zu den drei sowjetischen Stalinismus-Filmen im Forum: „Koma“, „Die Freiheit ist das Paradies“ und „Ist Stalin mit uns?“

Langsam werde ich Dokumentarfilmfan. Zum Beispiel die Stalinismus-Filme im Forum. Zwei Spielfilme, Koma und S. E. R. - Freiheit ist das Paradies, spielen in Stalins Strafkolonien, in Gulags, Lagern und Erziehungsheimen. Das Dokumentarvideo Ist Stalin mit uns? zeigt Stalinisten in der Sowjetunion unter Gorbatschow.

Koma beginnt in Farbe, also heute, und blendet zurück in sanftes Sepia-Schwarzweiß, in die Fünfziger Jahre. Maria, die Heldin, lebt in einem Straflager für Frauen. Sie ist liiert mit dem Lagerkommandanten, aber das macht ihre Situation eher noch schlimmer. Die Frauen müssen ackern wie Vieh, leben zusammengepfercht in schmutzigen Baracken, kriegen kaum was zu essen. Von den Wärtern werden sie gedemütigt, mißhandelt, vergewaltigt, erpresst. Maria wird zusätzlich von den Frauen drangsaliert, wegen ihres Geliebten. Sie wird gezwungen, ihn zu denunzieren. Am Ende erfriert sie im Schnee, und der Lagerkommandant wird verhaftet. Im Büro hängt Stalins Bild, aus dem Radio tönt seine Stimme. Also Stalin ist schuld.

Wieder, wie am Anfang, die Bahnfahrt zum Lager, wieder öffnet sich ein Eisentor mit Stacheldraht, damals wie heute, der Film endet in Farbe. Das Problem ist der Sepiaton. Er mildert das Grauen, macht es erträglich.

S. E. R ist eine Art Roadmovie. Der 13jährige Sascha flieht aus dem Erziehungsheim, wird eingefangen, flieht wieder. Er will zu seinem Vater, der irgendwo im Norden in einem Straflager sitzt. Seine Reisestationen sind Viehwaggons und Karzer, Kindersammelstellen, sterile Polizeireviere, stinkende Klos und das Unterdeck eines Passagierschiffes. Russland ist ein Niemandsland, selbst Moskau auf der Durchfahrt bleibt seltsam fremd, seltsam weit weg. Auf der Schiffsfahrt küßt der blasse, schielende Sascha ein Mädchen vom Oberdeck, eins, von den Reichen. Oder besser: Sie küßt ihn. Und läßt ihn stehen.

Im Lager, in dem der Vater sitzt, das erste menschliche Wesen. Der Offizier hat Mitleid, Vater und Sohn dürfen eine Nacht zusammen verbringen. Am andern Morgen wartet auf Sascha schon der Wagen mit den vergitterten Fenstern und bringt ihn zurück ins Heim. Sascha wehrt sich nicht, brav sieht er aus mit seinen großen, traurigen Augen. Und der nette Offizier rückt seine Uniform zurecht, dreht sich um und geht ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Bestimmt ist er ein guter Familienvater.

Der Darsteller von Sascha ist kein Schauspieler. Der Junge war tatsächlich Zögling eines Internats für Schwererziehbare. S. E. R ist nüchterner als Koma und rührt dafür um so mehr. Trotzdem lehren mich beide Filme, was ich schon weiß: wie schrecklich Stalinismus ist und daß es Institutionen gibt, die man in die Luft sprengen sollte.

Anders ging es mir bei Ist Stalin mit uns?. Eigentlich sollte er Stalin ist mit uns heißen, aber der Stellvertretende Vorsitzende des Staatlichen Komitees für Kinematographie und Generaldirektor von 'Videofilm‘ Oleg Uralow wollte das Video ohne Fragezeichen nicht zulassen. Regisseur Schachwerdijew nahm das Fragezeichen in Kauf, die Antwort der Zuschauer würde am Ende ohnehin eindeutig ausfallen.

Der Film beginnt mit einem Hypnotiseur, der während einer Unterhaltungssendung das halbe Publikum in Trance versetzt. Dann sind wir im Wohnzimmer einer freundlichen älteren Frau. Sie klöppelt eine Spitzendecke und, plaudert mit ihrem Kanarienvogel. Sie ist Lehrerin, eine, wie man sie immer gern gehabt hätte. Sie hat keine Familie, aber sie ist verliebt. Der Mann ihres Lebens hat strahlende Augen und eine sanfte Stimme. Sein Name: Stalin. Sie sagt: „Auch unter Stalin gab es Glasnost. Verhaftungen, Verbannungen und Erschießungen wurden nicht verheimlicht. Heute ist Glasnost einseitig, das ganze Land ist zerstritten. Ich schäme mich, in einer Zeit zu leben, da sich das Land von seiner Geschichte losgesagt hat.“

Die Lehrerin geht spazieren, in einem verwilderten Stück Wald. Im Laub liegt, halb versteckt, ein riesiger steinerner Kopf. Behutsam legt sie ihn frei, tätschelt die verwitterte Wange - von Väterchen Stalin.

Schachwerdijew hat ähnlich gearbeitet wie Marcel Ophuls in Hotel Terminus. Er läßt die Stalinisten erzählen und verzichtet auf jeden pädagogischen Kommentar. Sogar als einer die Schauprozesse verteidigt: „Niemand schlug die Angeklagten, das hat Solschenizyn erfunden“. Der Mann müßte es besser wissen, er war der Wärter Bucharins.

Die Stalinisten heute - das sind Kiregsveteranen, ein ehemaliger Staatsanwalt, ein Taxifahrer, ein Strafgefangener, ein bildhübscher Kosake, die Lehrerin. Keine Monster, ganz normale Sowjetbürger. Nur daß sie Sätze sagen wie: „Auch Stalin wollte die Perestroika. Er sagte Umgestaltung, und das Volk gestaltete sich widerspruchslos um“.

Schachwerdijew erzählt in einem Interview, er habe eine Sendung über die Lehrerin gesehen, in der behauptet wird, sie schlage ihre Schüler. „Aber nichts dergleichen! Ich war in ihrer Schule - alles ist normal. Auch bei ihr zu Hause ist alles absolut normal“. Das ist das Komplizierte am Stalinismus.

Einmal kommt es zum Streit. Der ehemalige Wärter wettert gegen Bucharins Rehabiliterung. Sein Gesprächspartner, kein Stalinist, verteidigt Gorbatschow. Er freut sich, daß der andere Stalinanhänger sein darf und dafür nicht ins Gefängnis kommt. Nicht die Republikaner sind das Problem, sondern unser Wunsch, sie zu verbieten. Das wurde mir erst klar, als ich Schachwerdijews Film sah.

Christiane Peitz

Nijole Adomenaite, Boris Gorlow: Koma, mit Natalia Nikulenko, UdSSR 1989, 62 Min.

Sergej Bodrow: S. E. R. - Freiheit ist das Paradies, mit Wladimir Karasjow, UdSSR 1989, 76 Min.

Tofik Schachwerdijew: Ist Stalin mit uns?, UdSSR 1989, 75 Min.

Leider ist nur noch „S. E. R“ zu sehen: 17. 2. Arsenal 10.00, 18. Akademie 22.15