Über die Gotische Linie

■ Eine Ausstellung über den deutschen Widerstandskämpfer Rudolf Jacobs in Bremen

Birgit Schicchi Tilse

Noch 50 Jahre nach Kriegsbeginn gilt in der Bundesrepublik Deutschland ein deutscher Soldat als vermißt, dem in Italien die Silberne Tapferkeitsmedaille in memoriam verliehen und der zum Ehrenbürger der Kleinstadt Sarzana bei La Spezia ernannt wurde.

In Sarzana fand er zusammen mit seinen gefallenen Kameraden bei einem Ehrenmal die letzte Ruhestätte. An der Stelle, wo er am 3. November 1944 in eben derselben Stadt fiel, erinnert eine marmorne Gedenkplatte an diesen außergewöhnlichen Menschen.

Es handelt sich um den Kapitän zur See Rudolf Jacobs, den einzigen deutschen Offizier, der an der italienischen Front den Mut aufgebracht hat, zu den Partisanen überzulaufen und im Kampf mit ihnen gegen Faschisten und deutsche Besatzungsmacht sein Leben aufs Spiel zu setzen, erfüllt von der Hoffnung, ihr Handeln möge die Beendigung aller Greuel beschleunigen.

Am 9. Februar 1990 wurde im Gustav-Heinemann-Bürgerhaus von Bremen-Vegesack eine Ausstellung über Jacobs eröffnet (wohl nicht zufällig dort, wo man 1985 dem Unbekannten Deserteur das erste Denkmal errichtete) und man erwägt, eine Straße in Bremen, seiner Geburtsstadt, nach ihm zu benennen.

Daß Jacobs‘ Fall in der BRD erst so spät publik wird, hängt wohl damit zusammen, daß die Mehrzahl der älteren Deutschen das Schuldgefühl, versagt zu haben, noch immer verdrängt. Die bundesdeutsche Gesellschaft im Ganzen hat es nach dem Krieg versäumt, „sich der schmerzlichen Mühe zu unterziehen, ihre blutige Vergangenheit trauernd zu bearbeiten“ (Margarete Mitscherlich). Der grüne Rebell

So mußten Jacobs‘ Angehörigen in der Bundesrepublik befürchten, in Verruf zu geraten, wenn die Wahrheit über Ehemann und Vater ans Licht käme. Als Ende der fünfziger Jahre westdeutsche Journalisten den Wunsch äußerten, Jacobs‘ Geschichte der Öffentlichkeit bekanntzumachen, lehnte die Famile ab, und sie vermied den Kontakt zu seinem ehemaligen Vorgesetzten, Reidt, und seinem Adjutanten, der sie spät ausfindig gemacht hatte.

In der DDR hingegen brachte eine Zeitung schon in den fünfziger Jahren eine Dokumentation über Jacobs; es erschien dort sogar ein Fortsetzungsroman über ihn, Der grüne Rebell. Und in Italien lief 1985, anläßlich des 40. „Jahrestages der Befreiung“, im Fernsehen, in Schulen und Kinos der Film mit dem provokativen Titel Verrat (Regisseur: Ansano Giannarelli), dessen Zentralfigur Jacobs ist (das fast zweistündige Werk soll vielleicht auch im deutschen Fernsehen gezeigt werden).

Frau und Söhne Jacobs‘ erfuhren erst durch einen in gebrochenes Deutsch übersetzten Brief vom 27.Februar 1957 aus Sarzana vom Tod ihres Angehörigen und den damit verbundenen Umständen und der Vorgeschichte. Absender des Briefes war der langjährige Bürgermeister von Sarzana, Paolino Ranieri, der sich besonders um Jacobs‘ italienische Ehrungen verdient gemacht und sich um das Auffinden der Familie bemüht hatte.

Ranieri (Tarnname „Andrea“), jetzt Präsident von A.N.P.I. Sarzana („Nationalvereinigung der Italienischen Partisanen“), war von 1943 bis 1945 Politkommissar der Garibaldi-Brigade „Ugo Muccini“ gewesen, in die Jacobs eingetreten war, und spricht noch heute - wie andere Partisanen, die noch am Leben sind und ihn kannten - mit Bewunderung und Verehrung von diesem „aufrichtigen, ehrlichen und guten Menschen mit tiefen Gefühlen“.

Obwohl es sich weitgehend um Kommunisten handelt, wie es der politischen Tradition des Gebietes entspricht, betonen sie, Jacobs sei kein Kommunist gewesen, sondern „nur“ ein Idealist, der gesagt habe: „Es ist nicht leicht, ein richtiger Kommunist zu sein. Dazu gehört ein sehr großes Herz.“ Deserteur der Volksgemeinschaft

Welches Ideal hat Rudolf Jacobs die schwere Entscheidung treffen lassen, zum Feind überzulaufen, der ihm Freund wurde? Als Deserteur wäre er in einem Gefangenenlager der schon in die Toskana vorrückenden Alliierten zur Passivität verurteilt gewesen, wäre er nicht vorher schon von einer deutschen Patrouille gefaßt und füsiliert worden. Offensichtlich wollte er sich aktiv gegen den Wahnsinn der kriegshungrigen Nazis auflehnen, sich nicht weiter mitschuldig machen als Mitläufer einer „Volksgemeinschaft“, die ein Verbrechen an das andere reihte.

War die Enttäuschung über das mißglückte Attentat gegen Hitler oder das Entsetzen über die unbeschreiblichen Massaker an italienischen Zivilisten, die deutsche Soldatenhorden verübten, ausschlaggebend dafür, daß Jacobs‘ seelisches Leidensmaß zum Überlaufen kam?

Vermutlich hat Jacobs lange nicht von allen Greueltaten etwas erfahren, aber hätte nicht schon das Wissen von einer einzigen genügen müssen, um aufzuwachen aus der Trance, in die das deutsche Volk versunken war?

Rudolf Jacobs, geboren 1914, stammte aus einer gutbürgerlichen Bremer Familie. Sein Vater war Architekt, hatte liberale Ansichten und war dem Nationalsozialismus nicht gut gesinnt, so daß er den Sohn überredete, nach dem Abitur in die Handelsmarine einzutreten, damit er „weit vom Schuß“ sei. Jacobs fuhr einige Jahre zur See, legte sein Offizierspatent ab. Dann wurde er zum Wehrdienst eingezogen, heiratete 1936. 1938 verwirklichte er seinen langgehegten Wunsch zu studieren. Zunächst besuchte er das Technikum in Bremen (Ingenieursprüfung am 27. Februar 1940), wechselte dann auf die Technischen Hochschulen von Braunschweig und Hannover über. Er hatte alles versucht, nicht eingezogen zu werden. 1939 kam doch die Einberufung, aber anscheinend wurde er zeitweise wegen des Studiums vom Dienst zurückgestellt.

In Hamburg-Altona und in Saarburg (Lothringen) wurde er für die Bauplanung des Westwalles eingesetzt. In Saarburg hatte er einen jüdischen Kollegen, dem Jacobs - so vermutet seine Witwe - zur nächtlichen Flucht verhalf. Abends hatte man noch zusammen gegessen. Dann ging er mit seinem Kollegen, ausgerüstet mit einem Rucksack, fort. Seiner Frau sagte er nur, sie solle ihn krank melden, falls er am nächsten Morgen nicht zurück sei, und nie fragen, wo er gewesen sei. Sie entsprach dieser Bitte, den Kollegen sah sie nie wieder.

Am 28. August 1942 schickte Jacobs einen kurzen Brief an seine Frau. Er war nun bei der Kriegsmarine in Wilhelmshaven.

Ab Herbst 1943 ist er beim Ingenieurskorps der Kriegsmarine in Italien, 1944 hat er den Dienstgrad eines Kapitäns zur See und residiert in einer von den Deutschen beschlagnahmten Villa in Pugliola, mit herrlichem Blick auf den Golf von La Spezia. Er ist verantwortlich für den Aus- und Neubau der Festungsanlagen und Geschützstellungen an der Bucht.

Er läßt auf dem Schwarzmarkt - von der deutschen Besatzungsmacht verboten - beschlagnahmte Lebensmittel zu amtlichen Festpreisen an die Bevölkerung verkaufen; auf deutsche Kosten und mit deutschen Lastern läßt er Nahrung für die Italiener beschaffen; einer faschistischen Baufirma, die für die „Organisation Todt“ arbeitet, weist er Betrug und Unterschlagung von Gewinnanteilen nach. Er entläßt die vier korrupten Angestellten und läßt ihnen 48 Stunden Zeit zu verschwinden, statt sie gleich verhaften zu lassen. Ist er ein Spion?

Er ist bei seinen italienischen Nachbarn beliebt; er spricht ihre Sprache. Mit manchen seiner Reden kompromittiert sich dieser Marineoffizier des Dritten Reiches, der nachts klassische Musik hört und auch nicht zögert, den Abtransport der wertvollen Möbel der für ihn beschlagnahmten Villa zu verhindern, damit sie den rechtmäßigen Besitzern erhalten bleiben.

Im Spätsommer 1944 befürchtet das Oberkommando der Wehrmacht eine alliierte Landung im Raum La Spezia/Genua. An der ligurischen Küste werden Truppenverstärkungen vorgenommen.

Jacobs benutzt die Versetzung seiner Einheit Richtung Genua zur Flucht. Sein Adjutant, dessen Name unbekannt ist, schließt sich dieser gefährlichen Entscheidung an, was ihm Jacobs trotz seines Verantwortungsgefühls nicht verweigert, wohl weil ihm Treue und Menschlichkeit gleichviel bedeuten.

Zunächst wird er von einem Tagelöhner der Villenbesitzer versteckt. Er nimmt Kontakte zu den Partisanen auf. Diese sind ihm gegenüber skeptisch: Ist er ein Opportunist, der sich zu ihnen schlagen will, weil er gemerkt hat, daß sich die Lage der deutschen Armee verschlechtert? Ist er ein Spion? Obwohl er eine Empfehlung der Vertreter des CLN („Comitato di Liberazione Nazionale“) von Pugliola und Lerici hat, wird Jacobs in seinem Versteck, das er nur nachts während der Verdunkelung verlassen kann, in einer längeren Wartezeit auf die Probe gestellt.

Am späten Nachmittag des 3.September 1944 fahren Jacobs und sein Adjutant, uniformiert und bewaffnet, in einem Kleinlaster zu dem Treffen mit dem Partisanenführer Piero Galantini („Federico“) oberhalb von Sarzana. Sie werden in die „Bande“, die Brigade „Ugo Muccini“, aufgenommen. Jacobs hat eine weitere Probezeit zu bestehen, bevor er an militärischen Aktionen teilnehmen darf. Man läßt ihn Karten der Festungen und Artilleriestellungen anfertigen.

Keiner der Partisanen hatte sich einen deutschen Kameraden vorstellen können. Bisher hatten nur russische, polnische und jugoslawische Kriegsgefangene den Übertritt gewagt.

In einem deutschen Dokument von Dezember 1944 wird die Hypothese aufgestellt, daß Jacobs von den Widerstandskämpfern gefangengenommen wurde, während ein Vertrauensmann der Engländer in einem Bericht über die Brigade „Muccini“ von ausländischen Mitkämpfern spricht, unter denen auch ein deutscher Kapitän zur See sei, der sich als „Deserteur bei den Partisanen“ bezeichne.

Selbstverständlich kommt nun die unzugestellte Post der Familie aus Italien nach Deutschland mit dem Vermerk zurück, der Adressat sei vermißt.

Am 3. Oktober 1944 darf Jacobs (Tarnname „Primo“, „Erster“) endlich am Kampf gegen deutsche und faschistische Einheiten teilnehmen, die einen Überraschungsangriff in den Bergen von Sarzana starten. Diese Episode wird in einem Bericht des italienischen Verteidigungsministeriums erwähnt und ist ein Grund für die spätere Verleihung der Tapferkeitsmedaille an Jacobs.

Am 18. Oktober 1944 bringen Jacobs, sein Adjutant und zwei weitere Widerstandskämpfer in einer sehr riskanten Aktion eine Gruppe russischer Gefangener über den Fluß Magra zu den Partisanen, mit denen jene kollaborieren wollen.

Dann muß Jacobs einen von den Partisanen gefangenen deutschen Oberfeldwebel verhören und ihm seine Befreiung in Aussicht stellen, falls sich seine Garnison ohne Racheaktionen gegen die Bevölkerung zurückzieht. Eine tödliche Ladehemmung

Am 3. November 1944 findet die Aktion statt, bei der Jacobs fällt.

Er selbst hatte sie geplant; es ist nicht die erste gegen die Schwarzhemden, die ein Hotel an einem großen Platz Sarzanas zu ihrer Kaserne gemacht haben. Das Dach und die Fenster des ersten Stockwerkes sind mit Maschinengewehren bestückt, das Erdgeschoß ist verbarrikadiert. Die Widerstandskämpfer wollen versuchen, die Faschisten aus Sarzana zu vertreiben, wie es im nahen Carrara gelungen ist.

Das Überfallkommando besteht aus Jacobs, seinem Adjutanten, drei Russen und fünf Italienern. Die Waffen werden geprobt, die taktischen Einzelheiten genau besprochen: Zur Zeit des Abendessens, wenn alle Faschisten im Eßsaal des Parterres der Kaserne versammelt sind, sollen sich die zehn Mann, angetan mit deutschen Uniformen und einen deutschen Schlager singend, auf dem Platz einfinden. Jacobs will die Wache am Eingang der Kaserne erst auf deutsch, dann auf italienisch nach dem Befehlshaber fragen, einem wegen seiner Brutalität verschrieenen Major. Wenn er erscheint, will Jacobs sich seiner annehmen, sein Adjutant und ein anderer Kamerad sollen die Wache überwältigen, die übrigen in den Eßsaal stürzen und die dort Versammelten niederschießen.

Die Ausführung des ersten Teils der Planung verläuft reibungslos. Auf der Via Aurelia trifft man eine deutsche Patrouille, man grüßt sich, die Verkleidung wird nicht bemerkt.

Aber ausgerechnet an diesem Abend vertritt ein junger Offizier den verrufenen Major; er steht Jacobs am Eingang der Kaserne gegenüber. Jacobs gibt den ersten Schuß auf ihn ab, dann hat seine Maschinenpistole wahrscheinlich eine Ladehemmung. Jacobs fällt, von mehreren Schüssen getroffen. Sein Adjutant wird verwundet. Unter dem Geschoßhagel, der von Dach und Fenstern einsetzt, ziehen die anderen Partisanen den Verletzten fort, obwohl er sich sträubt und bei seinem Kapitän bleiben will.

Unter den Faschisten gibt es drei Tote und sechs Verletzte; zum Glück rächen sie sich nicht an der Bevölkerung, die die Widerstandsbewegung nicht nur duldet, sondern auch unterstützt. Sie haben schon lange einen Angriff der Partisanen erwartet. Sie bringen Jacobs‘ Leiche ins Krankenhaus in der Hoffnung, jemand werde zur Identifizierung kommen. Ein Arzt stellt in Gegenwart eines Justizbeamten den Totenschein aus, eine genaue Beschreibung des Toten wird protokolliert (Jacobs hatte eine Hasenscharte). Sie wissen nicht einmal, daß dieser Unbekannte ein Deutscher ist, wie ein den Partisanen vertrauter Krankenpfleger, der bei der Beurkundung anwesend gewesen ist, diesen erzählt.

Eine Abteilung der Brigade wird sofort nach Jacobs benannt. Jacobs‘ Adjutant ist trotz vieler Schußwunden nicht ernsthaft verletzt. Als Ende November starke „Durchkämmungsaktionen“ im Gebiet der Brigade stattfinden, fliehen viele Widerstandskämpfer über die Gotische Linie, unter ihnen auch der Adjutant, und landen in den alliierten Gefangenenlagern.

Damit ist die kurze Geschichte des deutschen Widerstandes in Italien zu Ende.