Zwischen Traum und Wirklichkeit

■ Auch linke Utopien brauchen eine ökonomische Grundlage

Es widere ihn regelrecht an, wie jetzt alles niedergebügelt werde, was mit dem Traum vom demokratischen Sozialismus auch nur annähernd zu tun habe, sagte Günter Grass im Gespräch mit der taz. In der 'Zeit‘ polemisierte er gegen jene, die nun die linken Intellektuellen auf die historische Anklagebank setzen wollten. Auf diese Weise solle jede Möglichkeit eines „dritten Weges“ diskreditiert und der Weg zu einem deutschen Einheitsstaat freigemacht werden, der vor 50 Jahren - die „früh geschaffene Voraussetzung für Auschwitz“ war.

Während der Schriftsteller das größte Verbrechen, das Deutsche je begangen haben, zur Waffe im Kampf um das Fortbestehen seiner „Utopie“ macht, gleicht die DDR einem havarierten Schiff, dessen leidgeprüfte Passagiere mit dem Ruf „Land in Sicht!“ alle physikalischen Gesetze zu überwinden trachten. Sie träumen vom besseren Leben, von Palmenstrand und Kokosnüssen hier und jetzt, er aber vom wahren Leben der deutschen Kulturnation, in der Goethe und Bebel, Thomas Müntzer und Thomas Mann regieren.

Träume von Palmenstrand und Kokosnüssen

Von den realen ökonomischen Verhältnissen in der DDR weiß der Dichter immerhin, daß die „marktwirtschaftlichen Folterinstrumente“ des Westens zur Erpressung der sozialistischen Bananenrepublik DDR benutzt werden: „Wer nicht spurt, kriegt nix. Nicht mal Bananen.“

Günter Grass, in der Not sich selbst - und nicht ohne Stolz - als „vaterlandslosen Gesellen“ anzeigend, steht für eine intellektuelle Tradition, die sich ihre Utopie auch unter den allerwidrigsten Umständen nicht nehmen lassen will. Selbst im Angesicht apokalyptischer Bedrohungen behaupten die linken Schriftsteller ihren Traum von einer anderen Welt. Auch die SED-Mitglieder Christa Wolf und Stefan Heym konnten sich bislang als Wortführer einer „anderen Geschichte“ verstehen. Heym, der jüngst in einem Fernsehinterview auf die Frage nach seinen Privilegien unter dem SED-Regime antwortete, diese hätten vor allem in „schlaflosen Nächten“ bestanden, ist ein Prototyp der Intelligenzija, die sich in der „Utopie“ ebenso kämpferisch wie häuslich niedergelassen hat. Der bedingungslose Utopist, der kühne Träumer und der wagemutige Theoretiker beweisen sich an ihrer Fähigkeit, der Wirklichkeit zu trotzen und Gegenbilder zu entwerfen, denen die real existierende Gesellschaft zustreben soll. Die schlechte Gegenwart ist also geradezu ein Beweis für die Triftigkeit und Dringlichkeit utopischer Denkanstrengungen.

Spätestens seit dem 9.November 1989, als der schlechte Sozialismus in sich zusammenbrach, hat dieses utopische Denken seine Antipoden verloren. Kein Wunder, daß Christa Wolf und Stefan Heym „im Augenblick eine furchtbare Enttäuschung erleiden“, wie Günter Grass betont: „Mit dem Zusammenbruch der Partei geht bei denen auch ein Traum kaputt.“

Die „Partei“ war - ambivalent und widersprüchlich - der Orientierungspunkt dieses Traums. Doch was für ein Traum war das? Daß aus der DDR schließlich doch noch ein sozialistischer Staat mit „menschlichem Antlitz“ werden könnte? Daß die SED sich zur tatsächlichen „Avantgarde“ des Volkes hätte wandeln lassen? Daß aus den VEBs wahrhaft Volkseigene Betriebe werden würden, ließe man sie nur einen eigenständigen, „dritten“ Weg gehen?

Sie möchten an der Möglichkeit des anderen, des Nicht -Existenten an sich festhalten, inmitten des bedrohlichen Wirrwarrs der rasenden Zeitgeschichte die orientierende Perspektive nicht verlieren.

Der „dritte Weg“ lebte von den beiden existierenden Optionen, von der unterstellten Alternative zum realen Sozialismus und realem Kapitalismus. Nun aber, da jener in diesem aufzugehen scheint, da die Revolution gegen den Sozialismus in die Befürwortung des Kapitalismus - nichts anderes passiert gegenwärtig - umschlägt, entfällt die geschichtliche Dreifaltigkeit. Die historische Dreidimensionalität ist zur Drehscheibe geworden, auf der die letzten Ruinen des realen Sozialismus durcheinandergewirbelt werden und mit ihm die Restposten des traditionellen utopischen Denkens.

Des Dichters Realitätsverlust

Grass‘ Wort von der siegreichen „kapitalistischen Ideologie“ demonstriert diesen fatalen Realitätsverlust, denn nicht irgendeine Ideologie hat in der DDR versagt, sondern ein stalinistisch-bürokratisches System, das sich sozialistisch nannte, und nicht die Ideologie des Kapitalismus, sondern sein - in der Bundesrepublik und Westeuropa - vorzeigbarer ökonomischer Erfolg, der Lebensstandard der Durchschnittsbevölkerung, bildet die Anziehungskraft, die zum Exodus aus der DDR führt.

Die begriffliche Unschärfe hat ihrerseits System. Sie ist Folge der linken Nichtbefassung mit ökonomischen Fragen, seit die „Kritik der politischen Ökonomie“ und die „Kapital“ -Seminare zur biographischen Vergangenheit der Linken in der Bundesrepublik gehören. Die revolutionären Enttäuschungen nach 1968 ff. wurden mit Kultur, grünem Kirchenstreit und der Öko-Katastrophe kompensiert. So traf es nicht nur die pfeifenschmauchende Professoren- und Literatenlinke doppelt hart, daß zunächst eine gänzlich unerwartete Revolution ausbrach, die dann auch noch - ohne linke „Perspektivendiskussion“ - umstandslos Kurs auf den westlichen Status quo nahm, für dessen radikale Reformierung, wenn nicht Revolutionierung, die linke Intelligenz hierzulande ihr halbes Leben geopfert hat.

Ludwig Erhard als Revolutionstheoretiker, Kohl, Genscher und Brandt als Volkstribune - das stellte alles auf den Kopf. Die Forderung nach Zweistaatlichkeit geriet so zur letzten Auffangstation vor der Autobahn zum totalen Ausverkauf des utopischen Gedankens, der sich als schlichte Widerspiegelung der negativen Utopie vom Kapitalismus erwies: Was nicht sein darf, das kann nicht sein.

Eine schlechte Form von Metaphysik hat sich etabliert, die über Tatsachen großzügig hinwegsieht. Kritische Gesellschaftstheorie ist dabei längst zur kulturvollen Ethik geschrumpft, die gegen die häßliche Realität ihre exklusive Oppositionsrolle allemal behaupten kann - moralische „Überlegenheit“ inbegriffen.

Während die Hiobsbotschaften über einen bevorstehenden Kollaps der DDR-Ökonomie von Ministerpräsident Modrow selbst kommen und von Kombinatsdirektoren bestätigt werden, während jede Reise in die DDR die schlimmsten Vorahnungen übertrifft, warnen die Professoren Altvater, Deppe, Hickel u.a. vor einem zu hastigen Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten, weil es den gewünschten Investitionsboom, „wenn überhaupt, nur geben kann, wenn die Wirtschaft der DDR intakt bleibt“. Von dem täglichen Fluchtstrom und der offenkundigen Ablehnung des Staates DDR durch die Mehrheit seiner Bürger ist natürlich ebensowenig die Rede wie von den realen gesellschaftlichen Bewegungen, von Hoffnungen, Ängsten, Wünschen der Bevölkerung. Solche Ignoranz führt schließlich zu grotesken Fehleinschätzungen, wie sie etwa Antje Vollmer im ZDF geäußert hat: die DDR-Übersiedler flüchteten jetzt nicht mehr vor dem sozialökonomischen Desaster, sondern aus Angst vor der „Wieder„-Vereinigung. So entzeiht sie ihrer berechtigten Kritik an dem „Hauruck -Verfahren“ des Wahlkämpfers Kohl selbst die Grundlage ernsthafter Analyse.

Niemand muß sich mit dem Kapitalismus abfinden

Niemand muß und soll sich mit dem Kapitalismus alias „soziale Marktwirtschaft“ abfinden - schon gar nicht in der „Dritten Welt“, wo er schwerste Verwüstungen anrichtet. Aber nur die tatsächliche Auseinandersetzung mit den ökonomischen Verhältissen erlaubt es, Alternativen wieder denken zu können.

Erst wenn die linken Intellektuellen lernen, angesichts der Wirklichkeit auch einmal den Glauben zu verlieren, über den Schatten der süß-sauren Larmoyanz zu springen, können sie wieder Hoffnungen formulieren und Einfluß auf gesellschaftliche Entwicklungen zurückgewinnen.

Solange sie jedoch in ihren zutiefst unglücklichen, falschen Abstraktionen verharren, wird der Raum zwischen Traum und Wirklichkeit zur Steppe, die von Geschäftemachern, Wanderpredigern und verbitterten Klappentextschreibern bevölkert ist.

Reinhard Mohr

Nachtrag: Der Autor der gestrigen Dokumentation „West-Ost -Transfer in der Wohnungspolitik“ ist Prof. Klaus Novy