„Alle vier Reaktorblöcke sind reif“

■ Dr. Helmut Hirsch, Physiker und Reaktorexperte der Gruppe Ökologie Hannover, über die Teil-Stillegung des DDR-Atomkraftwerks Greifswald / Das Abschalten aller vier Reaktoren ist „ein fürchterliches Problem“

taz: Am Mittwoch ist Block II in Greifswald abgeschaltet worden. Vor wenigen Minuten wurde auch Block III vom Netz genommen. Reicht das aus, um die Sicherheit dieser Anlage zu gewährleisten?

Helmut Hirsch: Nach den Informationen, die mir vorliegen, sind alle vier Blöcke in einem katastrophal schlechten Zustand. Die Blöcke I und II sind allerdings älter und haben mehr Schwachstellen als III und IV. Insgesamt sind sicher alle vier Blöcke für die Stillegung reif.

Gerade Block I, der zu den beiden älteren gehört, soll aber nicht stillgelegt werden, weil sein morscher Reaktor -Druckbehälter durch Ausglühen „ausgeheilt“ worden sein soll. Was ist davon zu halten?

Zunächst muß man festhalten, daß die Blöcke I und II im Reaktordruckbehälter keine Innenplattierung als Korrosionsschutz haben. Block I ging als erster in Betrieb, und hier gab es neben der Korrosion auch die größten Probleme mit der Versprödung. Man hat versucht, dies mit einer Wärmebehandlung anzugehen. Noch ist aber überhaupt nicht klar, ob diese Behandlung die Erwartungen erfüllt hat. Das ist noch nicht ausreichend untersucht worden. Die Wärmebehandlung bedeutet bestenfalls eine Atempause. Sie kann außerdem die anderen Belastungen des Druckbehälters, vor allem die Korrosion, nicht mindern.

Nach den Aussagen von Umweltminister Töpfer soll die Sicherheit dadurch erhöht werden, daß man die Sicherheitssysteme der abgeschalteten Reaktoren für die zwei noch laufenden nutzt.

Das ist nur in ganz engen Grenzen möglich. Bei der zentralen Schwachstelle des Reaktordruckbehälters ist dies unmöglich. Wenn dieser Druckbehälter versagt, dann bedeutet dies einen nuklearen Super-GAU, und dann nützen die Sicherheitssysteme anderer Blöcke überhaupt nichts. Sie helfen auch nicht, was das nicht vorhandene Containment der Reaktoren angeht. Auch was die Meß-, Steuer- und Regelungstechnik betrifft, wird sich nicht viel ändern. Man kann - vereinfacht gesagt - sozusagen die besten Geräte aus den stillgelegten Blöcken holen und auf die noch laufenden Reaktoren konzentrieren. Das bringt vielleicht einige punktuelle Verbesserungen. Auch die Notstromversorgung kann dadurch verbessert werden, mehr nicht.

Eine Total-Stillegung scheint offenbar nicht durchsetzbar?

Das ist ein fürchterliches Problem. An Greifswald hängen ja nicht nur zehn Prozent Stromversorgung, sondern vor allem die Wärmeversorgung für 15.000 Wohnungen. Ich kann von hier aus nicht sagen, ob wirklich alle Möglichkeiten ausgelotet wurden, um eine Alternative zu finden.

Sie gehören zusammen mit Ilse Tweer, Klaus Traube und Michael Sailer zu einer Gruppe von unabhängigen Wissenschaftlern, die parallel zu Töpfers Experten die Sicherheit von Greifswald untersuchen sollen?

Unsere Gruppe hat sich zunächst informell konstituiert. Grundlage war ein Beschluß des Runden Tisches, daß auch Experten herangezogen werden, die das Vertrauen der Opposition haben. Wir hatten vor, parallel zu Töpfers Kommission zu arbeiten. Dabei wäre auch über Formen der Zusammenarbeit nachzudenken gewesen. Das ist jetzt möglicherweise hinfällig, nachdem die Töpfer-Kommission schon jetzt ihren Zwischenbericht vorgelegt hat. Die Änderung des Zeitplans war offenbar ein guter Schachzug, sich nicht in die Karten schauen zu lassen. Wir müssen jetzt unseren Auftrag neu definieren und organisieren.

Interview: Manfred Kriener