„Liebe, Demut und Bescheidenheit...“

■ ...fordert der neugewählte Chef der Ostberliner CDU Ralf Wieynck - und mußte sein Amt als Landesvorsitzender bereits nach drei Stunden wieder abgeben / Bericht vom Gründungsparteitag am Wochenende in Weißensee

„Ich trete für drei Werte ein: Liebe, Demut und Bescheidenheit.“ Leicht sächselnd stellt sich mit diesen Worten ein distinguiert wirkender graumelierter Endvierziger dem Publikum. Der, der mit diesen Worten um die Gunst von etwa 200 Menschen wirbt, spricht nicht auf einer kirchlichen Veranstaltung, sondern will in ein politisches Amt gewählt werden: Ralf Wieynck, Wissenschaftler im Bereich Kosmosforschung, CDU-Mitglied seit 1958, stellt sich auf dem Gründungsparteitag des Berliner Landesverbandes der Ost-CDU als Kandidat für den Ersten Landesvorsitzenden vor. Sein Ziel sei ein gemeinsamer Landesverband der CDU für Gesamt -Berlin, ein Landesverband für die zukünftige Hauptstadt. Zumindest an diesem Punkt ist ihm der Beifall der 210 Delegierten aus den Ostberliner Bezirken sicher, die sich am Samstag im Kreiskulturhaus in Weißensee versammelt hatten, um nach Thüringen den zweiten CDU-Landesverband in der DDR zu konstituieren.

„Umkehr in die Zukunft“ - unter diesem Slogan ist die Ost -CDU in den Wahlkampf gegangen, so prangt es auch als Motto über dem Saal. „Christ sein, heißt teilen können“ beschwört der Vorsitzende der DDR-CDU Lothar de Maiziere das Publikum zum Auftakt, nachdem sich unter tosendem Beifall der Berliner Landesverband förmlich gegründet hat. Volkspartei der arbeitenden Bevölkerung wolle die CDU sein, sich einsetzen für gesellschaftliche Randgruppen und für soziale Marktwirtschaft. Nach de Maiziere ergreift der stellvertretende Bürgermeister von Ost-Berlin, Wolfgang Schmahl, seit zwanzig Jahren Parteimiglied, das Wort und führt die politischen Ziele des Landesverbandes aus: Ein einheitliches Berlin müsse so schnell wie möglich erreicht, die widernatürliche Spaltung von 1948 überwunden werden. Er schlägt vor, die Westberliner Verfassung von 1950 zu übernehmen.

Nach den offiziellen Reden beginnt die Wahl des Landesvorstandes, jeweils von längeren Auszählpausen unterbrochen. Erster Landesvorsitzender wird tatsächlich Wieynck, der sich gegen den Favoriten Engler durchsetzen kann. Zu seinen Stellvertretern werden auf Platz eins der Lokalchef der CDU-Zeitung 'Neue Zeit‘ gekürt, gefolgt von einer Dolmetscherin und einem Chemie-Professor. Laut Kandidatenliste ist die CDU eine nahezu hundertprozentige Akademikerpartei. Alles Mitglieder, deren überwiegender Teil um die 50 Jahre alt und seit Jahrzehnten in der Partei ist.

Dementsprechemd schwer tut sich die Delegiertenkonferenz mit der „Umkehr in die Zukunft“, mit dem Erlernen von demokratischen Spielregeln. Immerhin wird eine Frau in den Vorstand gewählt, die sich bei ihrer Vorstellung für die Frauenfrage stark macht. Idealiter wäre die in einer wahren Partnerschaft gelöst, denn „wahre Partnerschaft macht die Quote überflüssig“. Immer wieder rufen einzelne Delegierte dazu auf, radikal mit der Blockpartei-Vergangenheit zu brechen. Wie das gehen soll, weiß keiner so recht. Und auch nicht, wie man dem akuten Mitgliederschwund entgegentreten soll.

Nach einer konfusen Diskussion stellt ein Delegierter den Antrag, die Medien auszuschließen und wird dafür vom ansonsten eher ruhigen Publikum ausgepfiffen. Man diskutiert über einen Spendenaufruf für ein Mahnmal für die Opfer des Stalinismus, doch wo soll es errichtet werden? Vor dem Regierungspalast - aber wie lang gibt es die noch? Man einigt sich schließlich auf den Platz vor der Gethsemanekirche und auf den 7.Oktober, Jahr unbestimmt. An der Basis vom Prenzlauer Berg macht sich Unruhe breit über die Wahl des Vorsitzenden, in einer Pause kursieren Gerüchte...

Draußen, bei strahlendem Wetter, wird derweil Straßenwahlkampf gemacht, mit offen sichtbarer Unterstützung durch die Schwester in der anderen Hälfte der Stadt. Gegen 15 Uhr fährt die Westberliner CDU ihr prominentestes Mitglied Eberhard Diepgen auf, der auf einer Kundgebung flammend die Einheit fordert und den Zuhörern das Blaue vom Himmel herunter verspricht. Die Stimmung auf dem Platz ist aggressiv, Gegendemonstranten mit roten Fahnen werden angegriffen und zum Teil niedergeprügelt.

Drinnen geht der Parteitag weiter. Dabei wächst im Saal eine gewisse Unruhe kontinuierlich an, zunächst ohne erkennbaren Grund. Schließlich die Überraschung des Tages: Ralf Wieynck war vermutlich der kürzeste Landesvorsitzende einer Partei in der Nachkriegsgeschichte. Ein Delegierter stellt einen Mißtrauensantrag, da Wieynck im Jahr 1974 alkoholisiert am Steuer einen Unfall verursacht habe, bei dem ein Mensch ums Leben gekommen sei (Das kennen wir doch aus dem Süden unserer schönen Bundesrepublik!). Obwohl er damals rechtskräftig verurteilt wurde, kommt es zu Tumulten im Saal. Der Rücktritt wird lautstark gefordert, einige Delegierte verlassen erregt den Parteitag. Dem Mann, der sich massiv für Liebe, Demut und Bescheidenheit eingesetzt hatte, wird schließlich in einer Abstimmung das Vertrauen entzogen. Erst im dritten Wahlgang erhält der neue Vorsitzende Eberhard Engler die erforderliche Mehrheit. Umkehr in die Zukunft?

Kordula Doerfler