An Händen und Füßen

■ Recsk: ein brillianter Interviewfilm über den ungarischen Gulag

Hinterher kommt die Wut, die Tränenwut, und ich kann nichts anderes denken als immer wieder: Es geschieht noch immer. Es ist ja nicht vorbei.

Recsk 1950-1953 ist ein Film, der die Zuschauer ganz und gar absorbiert, sie verwickelt; er dauert vier Stunden, aber man bleibt mühelos dabei. Recsk rollt eine alte Geschichte auf, die in Ungarn eine ganz aktuelle Geschichte ist, nämlich die ihrer Stasi, dort genannt AVH.

Recsk ist ein Dorf im nördlichen Ungarn, neben dem ein stalinistisches Arbeitslager errichtet wurde. Recsk war nicht Auschwitz - Opfer und Täter finden noch Worte. So kommen nicht nur die Greuel an den Tag, sondern es wird sehr klar, wie es dazu kam und welche Spuren sie hinterlassen, und das ohne jede Sentimentalität. Die Wut kommt hinterher, weil man dann weiß, daß diese Art kollektiver Gewalt nie ein Ende haben wird. Sie ist die schmierige Rückseite jedes Schimmers von Hoffnung.

Den Film haben gedreht: Livia Gyarmathy und Geza Böszörmenyi, sie Jahrgang '32, er Jahrgang '24; sie leben und arbeiten zusammen in Ungarn. Sie begannen die Arbeiten an Recsk 1986 unter Drohungen und Denunziationen. Es ist ein klassischer Interviewfilm, man sieht die Leute, sie erzählen ihre Geschichte, und dann kommen sie mit kürzeren Statements wieder. So lernt man sie kennen, die Opfer, die an Recsk zerbrochen sind und Opfer, die daraus Kraft geschöpft haben; den Aufseher, der noch in den fünfzigern seine Entlassung aus dem militärischen Apparat bewirkte und sich seitdem mit Magenproblemen quält und den Aufseher, der dreist erläutert, daß richtig war, was damals geschehen ist

-der hölzerne Rentner der Inquisition.

So kommt man den Leuten, egal zu welcher Seite sie gehören, unwillkürlich näher. Die Geschichten schreiben sich nur über das Erzählte und über die sehr einfach, aber in der Summe erschöpfend gestellten Fragen. Keine Kommentare aus dem off.

Die Frage nach dem Verzeihen ist einer der letzten thematischen Blocks dieses Films. Zunächst werden die Umstände im Lager rekonstruiert; wird erzählt, wie die Leute verhaftet wurden und unter teils abstrusen Anschuldigungen eingesperrt; es wird deutlich, wie zwei Fraktionen von Gefangenen, Sozialdemokraten und „Faschisten“ gegeneinander ausgespielt wurden; es wird die Funktion eines Wasserlochs erklärt, in das Leute strafweise ganze Nächte gestellt wurden; es wird die Geschichte einer zunächst gelingenden Flucht rekonstruiert - aber die Folgen für die Zurückgebliebenen dabei nicht verschwiegen. Zu den Details des Lagers kommen immer stärker Fragen nach Hierarchien, nach Gefühlen, Strategien des Überlebens.

Mit überzeugenden Schnitten werden die Lügen der AVH-Leute enttarnt: Was der eine leugnet, gesteht der andere jovial ein. Aber auch ihre Motivationen kommen zur Sprache. Es handelt sich um einfache Leute, die ihre persönliche Hoffnung auf Besserung ihrer Lage mit den Parolen des Systems kurzschließen. „Es kann schon sein, daß die körperliche Arbeit an Händen und Füßen der Doktoren und Professoren auch Spuren hinterlassen hat“, sagt einer der Aufseher. Infam, denn es assoziiert, was nicht zusammengehört: soziales Gefälle und Folter. An Füßen und Händen wurden die Gefangenen besonders geschlagen.

Dieses Lager Recsk war offiziell ein Arbeitslager, aber es war als Vernichtungslager gemeint. Das wird deutlich, als die Auflösung des Lagers nach Stalins Tod rekonstruiert wird. Persönliche Sachen und Papiere der Gefangenen waren in Unordnung, Wertsachen massenhaft verschwunden. Es gab nicht einmal Protokolle über die Zahl der Toten und ihre Namen. Ein Ex-Aufseher sagt: „Wir dachten ja nicht, daß die da wieder herauskommen“.

Böszörmenyi war selbst drei Jahre in Recsk. Darum wohl hat er die Interviews mit den AVH-Leuten seiner Frau Livia Gyarmathy überlassen. Ihr gelingt es, die Täter beharrlich, aber ohne jeglichen Unterton von „Verhör“ zu befragen.

Befragt, ob er denn den Tätern verzeihen könne, sagt Böszörmenyi (in der Pressekonferenz) überraschend: Ja, nur einem Mitgefangenen, einem „Kapo“ nicht. Recsk betrachte er

-so gibt es der Simultanübersetzer über Kopfhörer wieder als „eine Schicksalsplage, mit der er nichts anfangen kann“.

Die große Leistung des Films neben der Qualität der Interviews ist der Schnitt. Wie in einer strengen Inszenierung (tatsächlich machen die beiden auch Spielfilme) gibt es keinerlei Ablenkung in diesem Film, aber auch keine Hast. Manchmal kehrt die Kamera, aber dann fast ausschließlich in Begleitung der Protagonisten, an den nun überwucherten Schauplatz zurück. Auch alte Fotografien werden eingeblendet. Man sieht in den jungen Gesichtern Hoffnung, List, Klugheit und Mut; auch bei den jungen Tätern keinen Anschein von Bosheit. Bei fast allen - und das ist natürlich auch die Macht der filmisch geblowupten Fotografien - eine enorme erotische Kraft. Daß der Film nur von Männern handelt, habe ich erst bemerkt, als ich danach gefragt wurde. Frauen tauchen nur auf im Chor der AVH.

Sehr merkwürdig an Recsk ist, daß das Filmmaterial ständig wechselt: Farbe, Schwarz/weiß und Video. Zu Anfang, berichten die Regisseure, sei das ein Konzept gewesen: die Täter in schwarz/weiß, die Opfer in Farbe. Aber das Geld ging ihnen aus. So wechselten sie zunächst auf schwarz/weiß (was in Ungarn offenbar noch billiger ist als Farbe), dann auf Video. Der Effekt ist enorm: die verschiedenen Träger des Lichts - und nichts anderes ist ja das Filmmaterial geben den Gesichtern jeweils eine ganz eigenwillige „haptische“ Dimension. Der Wechsel lenkt auch nicht ab, sondern steigert die Aufmerksamkeit.

Im Abspann erscheinen die Namen der AVH-Leute, die die Aussage für diesen Film verweigert haben.

Livia Gyarmathy ist Mitglied der Jury im „Wettbewerb“ der Berlinale. Was sie von den aktuellen amerikanischen Spielfilmen hält, ist sie bereit zu sagen, wenn die „Bären“ vergeben sind.

Ulf Erdmann Ziegler

Recsk 1950-1953, Die Geschichte eines Arbeitslagers von Livia Gyarmathy und Geza Böszörmenyi