Arm, aber ehrlich

■ Über Woody Allens „Crimes and Misdemeanors“ (außer Wettbewerb)

Ein Fenster, eine Kamera, ein Augenarzt, das Auge Gottes, ein blinder Rabbi, ein sehender Judaist: Woody Allens Filme gehören nicht zu denen, über die man noch am Nachmittag der ersten Vorführung eine Kritik schreiben könnte. Sie werden immer vertrackter, verschlossener, selbstbezogener und -quälerischer. Aus Amerika war nach dem Start des Films das Echo herübergeschallt, daß Crimes and Misdemeanors nun endlich wieder ein komischer Allen sei und daß die amerikanische Kritik nach Filmen, die sie als Bergmann -Plagiate verrissen hatte, nun wieder versöhnt sei.

In Wirklichkeit gibt es zwischen diesem Film und den letzten keinen Bruch. Der einzige Unterschied ist, daß Allen selbst mitspielt, daß es komische Szenen gibt. Aber Allen war schon immer gewissermaßen gegen seinen Willen tragischerweise - komisch. Seine Komik war nie unernst, vielleicht empfand er sie nur als grausam angesichts der traurigen Gechichten, die er erzählt.

Vielleicht können seine Filme in Amerika gar nicht mehr verstanden werden. Sie wirken wie abgewandt von Amerika. Gerade im Vergleich zu den vielen amerikanischen Filmen, die man auf der Berlinale sehen durfte, hat man den Eindruck, daß Allens Filme von woandersher kommen, aus irgendeinem fernen fremden Land, dessen Gesellschaftsformen, Riten, komplizierten Verwandtschafts- und Liebesbeziehungen er als das einzige Originalgenie dieses Landes ins Bild setzt.

Daß Allen in den letzten Jahren stets mit einem europäischen Kameramann, Sven Nykvist, gearbeitet hat, kommt bestimmt nicht von ungefähr. Daß die Bilder von Film zu Film in ein immer tieferes gelbliches Beige getönt werden, selbst in Außenaufnehmen, auch nicht. Es ist die Farbe einer behaglichen, vielleicht falschen, aber ihn einzig interessierenden Innerlichkeit. Amerika, diese unendliche Weite außerhalb von New York, die auch das amerikanische Kino geprägt hat, kommt bei Allen nicht vor.

Der Applaus am Anfang und am Ende von Crimes and Misdemeanors spricht nicht weniger für Allens Rückzug von Amerika. Es ist ein Selbstapplaus gegen ein Land, das ihn immer nur als Slapstick-Komiker haben will. Und Allen hat vollkommen recht damit. Anders auch als im gewöhnlichen amerikanischen Kino, das mit dümmeren Zuschauern rechnet, die immer kompliziertere Erzählstruktur, das immer härtere Aneinanderschneiden von Vergangenheit und Gegenwart, die Sparsamkeit der Mittel und die Gleichzeitigkeit mehrerer Geschichten in einem relativ lockeren formalen Zusammenhang.

Crimes and Misdemeanors erzählt zwei Geschichten aus dem bürgerlichen jüdischen Milieu von New York, die erst am Ende in flüchtige Berührung geraten, ohne mit einer zu verwachsen. Der reiche Augenarzt Judah Rosenthal läßt seine Geliebte Dolores von einem gedungenen Mörder umbringen. Sie hatte das heimliche Verhältnis seiner Frau offenbaren wollen, und er konnte diesen Gedanken nicht ertragen. Nach der Tat plagt ihn das Gewissen, er erinnert sich an seine lange verdrängte religiöse Erziehung und spielt mit dem Gedanken, sich zu stellen.

Eine ernste Geschichte. Oder ist es komisch, daß zur Vorbereitung des Mords Schuberts Streichquintett läuft, das Dolores Judah zum Geburtstag gechenkt hatte und daß Judah das Auge Gottes auf sich ruhen fühlt, während der Rabbi, der bei ihm in Behandlung ist, erblindet?

Bei Sterns Geschichte lacht man mehr. Stern - Allen - ist ein armer aber ehrlicher Dokumentarfilmer. Um Geld zu verdienen muß er einen Film über seinen verhaßten, schwerreichen Schwager Lester drehen, einen Fernsehproduzenten. Stern liebt Halley (Mia Farrow). Aber Halley geht zum reichen Lester statt zum armen Stern. Allen braucht bloß zum Telefon zu greifen, zu wählen und zu warten, ob sie da ist - die Erleichterung in seinem Gesicht als Halley endlich abnimmt - sie ist also nicht zu Lester gegangen - seine Bestürzung, als er erfährt, daß Lester stattdessen bei ihr ist: Es ist zum Lachen.

Sterns eigentliches Projekt ist ein Film über den weltweisen alten Judaisten Louis Levy. Ein paar Interviewpassagen werden im Flm zitiert. Das Universum sei kalt und indifferent, nur die Menschen beseelten es mit Bedeutung.

Am Schluß heiratet die Tochter des erblindeten Rabbis. Judah erzählt Stern, den er gar nicht kennt, seine Geschichte, allerdings in der dritten Person, als Fabel, damit kein Verdacht auf ihn fällt. Stern sagt, daß er sich wohl stellen würde. Die beiden gehen auseinander. Die Kamera zeigt die Hochzeitsgesellschaft. Applaus. Ein paar Sätze von Levy über die Hoffnung, an die man glauben möchte, werden aus dem Off eingespielt. Ein paar Szenen vorher hat man erfahren, daß Sterns Levy-Projekt gescheitert ist. Levy hat sich mit einem lapidaren Satz aus dem kalten Universum verabschiedet: „Ich gehe aus dem Fenster“.

Thierry Chervel

Woody Allen, Crimes and Misdemeanors, USA, 105 Minuten