Noch immer befindet sich die Nato in Konfrontation zu uns

Nikolai S. Portugalow (ZK-Mitglied der KPdSU) über den Weg zur deutschen Einheit  ■  I N T E R V I E W

taz: Eduard Schewardnadse hat am Donnerstag nach der Konferenz von Ottawa gesagt, es sei jetzt ein Regelmechanismus gefunden, mit dem man die deutsche Wiedervereinigung als Prozeß in den Griff bekommen kann.

Nikolai S. Portugalow: Ich habe ihn nuancierter verstanden. Aber vor allen Dingen will ich einmal festhalten, was Gorbatschow schon gesagt hat: Zuerst einmal ist es die Sache der Deutschen, auf welche Weise, in welchem Tempo und in welchem Rahmen sie sich vereinigen werden. Das betrifft die inneren Aspekte der deutschen Vereinigung. Das Wort „Wieder -“ paßt mir dabei eigentlich nicht.

Dann gibt es noch einen äußeren Aspekt, den Außenminister Schewardnadse hier gemeint hat. Die deutsche Vereinigung ist ein unumkehrbarer Prozeß geworden, aber dabei haben die Deutschen die gewachsenen Realitäten, die Sicherheitsinteressen ihrer Nachbarn zu berücksichtigen, aber auch, und vor allen Dingen, die genuinen Interessen der vier früheren Siegermächte, die immer noch Verantwortung für Deutschland als Ganzes tragen.

In welchem Verhältnis sollen denn die Vier-plus-zwo -Gespräche zu den Wiener Verhandlungen stehen oder zu dem erwarteten HelsinkiII?

Es steht noch bevor, dieses an sich gar nicht so unkomplizierte Verhältnis zu ergründen und zu definieren. Die Wiener Verhandlungen über vertrauensbildende Maßnahmen der 35 Staaten und die 25er Verhandlungen zwischen Warschauer Pakt und Nato laufen eigentlich gut und stehen unter einem günstigen Stern. Aber die Sicherheitsinteressen der Nachbarn Deutschlands und der vier Siegermächte werden nun natürlich auf diese Verhandlungen abfärben. Ich halte es zum Beispiel nicht für ausgeschlossen, daß auch eine sehr bedeutende Kürzung des Bestandes der Bundeswehr dabei aufs Tapet gebracht werden könnte. Nun kommen wir zum zweiten Teil Ihrer Frage, zu HelsinkiII. Bei Wien geht es eher um die Folgen, die gesamteuropäischen Gipfeltreffen, die KSZE -Verhandlungen, die Anfang Herbst geplant sind, sind ein integrierender Bestandteil der deutsch-deutschen Annäherung und Vereinigung. Auch dies gehört zu dem Mechanismus, der berufen ist, die außenpolitischen Aspekte der deutschen Frage zu regeln. Und dies entspricht ja auch der Position der Bundesregierung und der Oppositionsführung. Nach den „Formel-vier-plus-zwo-Verhandlungen“, zu denen es vermutlich noch in der ersten Jahreshälfte kommen wird, kann man deren Ergebnisse in die Tagesordnung des Gipfeltreffens in Helsinki einbringen, um dann den gesamteuropäischen Mechanismus weiter auszuarbeiten und nach gesamteuropäischen Lösungen Ausschau zu halten.

In Ottawa hat der polnische Außenminister eine besonders vermittelnde Rolle gespielt. Könnte man sich vorstellen, daß es in Zukunft in der sowjetischen Außenpolitik zu einem Schulterschluß mit Polen kommt, der in gewisser Weise den strategischen Rückzug der Sowjetunion aus Ungarn und der Tschechoslowakei kompensiert und ein Gegengewicht zu einem vereinten Deutschland schafft?

Polen ist immer noch Mitglied des Warschauer Paktes. Über die Transformation und Politisierung der früher rein militärischen Bündnisse werden Sie ja genug gehört haben. Allerdings haben Sie recht, daß die Polen ganz besondere Sicherheitsinteressen haben, die aus ihrer, genau wie aus unserer, leidvollen Geschichte stammen. Das ist aber kein Schulterschluß, das ist Parallelität und Zusammentreffen der nationalen Interessen. Polen ist nun mal einer der Staaten, die am meisten daran interessiert sind, daß die deutschen Sicherheitsgarantien lupenrein stimmen. Solange die Garantie der Oder-Neiße-Grenze nicht lupenrein da ist, kann ich die Vereinigung Deutschlands, in welcher Form auch immer, von sämtlichen Nachbarn nicht akzeptiert sehen. Das ist ein deutsches Problem.

Als Bundeskanzler Kohl in Moskau war, haben die Erklärungen des Regierungssprechers Gerassimow bei mir den Eindruck erweckt, als seien außer der Neutralität Deutschlands für die Sowjetunion auch noch die verschiedensten Formen der Anwesenheit von Nato und Warschauer Pakt auf deutschem Boden denkbar.

Ich verehre den Herrn Gerassimow sehr, aber ich habe natürlich auch eine eigene Meinung. Und Vereinigung im Nato -Kontext - auch mit einer gewissen Präsenz unserer Truppen auf dem Gebiet der heutigen DDR -, das ist mir ein bißchen zu mickrig. So billig ist das nicht zu haben. Wir haben die Neutralität als beste Lösung vorgeschlagen. Ob wir bei dieser Position bleiben, das überlasse ich den Diplomaten. Nur, was uns jetzt vom Westen als Ausgangsposition angeboten worden ist, das paßt uns überhaupt nicht. Und wenn man uns sagt, die Einbindung Deutschlands in der Nato sei die beste Garantie dafür, daß es nicht, wie anno dazumal, über die Stränge schlägt, so ist dies ein sehr zweifelhaftes Argument. Noch immer befindet sich die Nato in Konfrontation zu uns, und in der Strategie zählt nicht die Frage der Absichten - die können lauter sein -, sondern es zählen die Möglichkeiten.

Nach Ottawa hieß es in der westlichen Presse: „Nato-Truppen nicht auf das Gebiet der heutigen DDR“ sei als Verhandlungsbasis erst einmal von der Sowjetunion hingenommen worden.

Nein, nein, überhaupt nicht. Wenn Sie schon von Verhandlungspositionen sprechen, so ist es noch immer so, daß wir unsere haben und der Westen die seine.

Sie haben also eben diese sowjetische Verhandlungsposition formuliert?

In meinem Sinne, ja. Ich bin allerdings Deutschlandexperte und nicht Vertreter der sowjetischen Regierung oder des Auswärtigen Amtes.

Man hat Ihnen einige Bonmots zugeschrieben, zum Beispiel die SPD führe im DDR-Wahlkampf einen Vernichtungsfeldzug gegen die PDS.

Stimmt doch! Aber das brauchen Sie nicht überzubewerten. Realistisch sind wir ja schon und wissen, daß die PDS bei den nächsten Wahlen höchstens vierzehn und mindestens sieben Prozent bekommt und damit als Regierungspartei weg ist.

Dann sollen Sie noch gesagt haben, die Deutschen benähmen sich wie jemand, der sechs Richtige im Lotto hat und nun eiligst nach Monte Carlo fährt, um den Gewinn dort zu verbraten.

Das ist mir so eingefallen. Und gemeint habe ich doch nur folgendes: Der Vereinigungsprozeß ist unumkehrbar, und er ist so schnell und so friedlich gekommen, wie niemand es erwartet hätte, nicht zuletzt durch unseren Anstoß, durch den großen Impulsgeber in Gestalt von Generalsekretär Gorbatschow. Man hat also jetzt den Millionengewinn. Und wenn man nichts dazu täte, um die drohende Vereinigung im Chaos auf der Straße abzuwenden, wenn man dabei den Zusammenbruch jeglicher staatlichen Rechtsordnung in Kauf nähme, wäre das nicht ein sehr gewagtes Spiel? Warum wartet man bis nach den Wahlen in der DDR, bleibt untätig? Welches Kalkül steckt dahinter?

Was sollte vor den Wahlen einsetzen? Wirtschaftliche Hilfe?

Vor allen Dingen schon. Herr Oskar Lafontaine hat als Kanzlerkandidat der Opposition ja auch darauf hingewiesen, daß man auch unter Wahrung aller Verfassungsgebote durchaus administrative Schranken gegen den Flüchtlingsstrom in die Bundesrepublik errichten könnte.

Stellen Sie sich eine DDR vor, in der die Kraftwerke nicht mehr arbeiten, die Krankenhäuser geschlossen werden müssen und wo in dem entstehenden Chaos plötzlich eine aufgeputschte Menge eine unserer Garnisonen stürmt. Was dann?

Angenommen das Chaos wird vermieden. Was würde dann aus dem Viermächte-Status von Berlin?

Er besteht nun einmal, und man muß ihn noch berücksichtigen. Obwohl nach dem Fall der Mauer klargeworden ist, daß es sich hier nicht um der Weisheit letzten Schluß handelt. Es wäre Sache der Deutschen, nach einem vollzogenen Vereinigungsprozeß Berlin zur Hauptstadt zu machen. Und dann müßte man auf dem Verhandlungswege eben den obsolet gewordenen Viermächte-Status abschaffen. Aber kommt Zeit, kommt Rat.

Interview: Barbara Kerneck