Angst vor dem Großraum Berlin

■ Das Zusammenwachsen von West-Berlin und Ost-Berlin wird zum Testfall für den Verbund der beiden Staaten

Zwischen beiden Teilen Berlins gibt es demnächst 35 Grenzübergänge, Kontrollen werden erfreulich unbürokratisch durchgeführt. Nach Großflughafen und Olympia 2000 ist nun auch die „Perspektive Hauptstadt“ eines wiedervereinigten Deutschlands beherrschendes Thema bei Politikern und Städteplanern. In Bonn, der „provisorischen“ Hauptstadt, gibt es erste Anzeichen für eine Beendigung des „Zwischenspiels“: Die Immobilienpreise sinken, Großinvestoren üben Zurückhaltung. Und den mittleren Angestellten, die sich im beschaulichen Bonn eingerichtet haben, ist der Umzug an die Spree eine Horrorvision.

Ganz Schnelle möchten die ungeteilte Region am liebsten sofort. Die Ost-„Allianz für Berlin“ - CDU, DSU und Demokratischer Aufbruch - wünscht sich eine Beteiligung der Westberliner schon an der Wahl zu einem Geamt-Berliner Parlament am 6.Mai. Beinahe alles scheint möglich, und gerade dies täuscht darüber hinweg, daß eigentlich niemand in West und Ost so richtig weiß, wie die West-Insel mit der DDR zusammenwachsen soll. Was immer passiert, Berlin wird mit Sicherheit Versuchsstrecke und Risikozone jeder Neuvereinigung sein. Sind die damit verbundenen Prozesse überhaupt zu steuern, und wie kann man sich darauf vorbereiten?

Es herrscht Skepsis. Alle haben Angst. Ost-Leute und Westberliner gleichermaßen. Am deutlichsten haben sie bisher zwei Großverbände angesprochen. Der DGB erwartet zumindest für den gewerblichen Sektor verschärfte Konkurrenzen bei den Arbeitsplätzen und bei der Ansiedlung von Betrieben sowie einen wachsenden Lohndruck, der vom östlichen Billiglohnangebot ausgeht. Die Umweltinitiativen fürchten sich vor zwei Millionen Wochenendurlaubern und einem Einfamilienhausboom, einer zunehmenden Motorisierung sowie den steigenden Umweltbelastungen einer Wachstumsregion. Ostberliner fürchten sich vor einer Zweiklassengesellschaft, vor Freizeitangeboten, die nur noch den Devisenbringern offenstehen, vor Wohngebieten, die für Ostler unerschwinglich werden sowie vor Wohnhäusern, die plötzlich von bisher verschollenen Alteigentümern zurückgefordert werden und vieles mehr. Es ist erstaunlich, wie wenig und wie unqualifiziert diese Angst politisch thematisiert wird.

Wie weit haben sich bisher überhaupt konkrete Verflechtungen entwickelt? Es gibt demnächst 35 Grenzübergänge und eine Handvoll Buslinien zu benachbarten Orten. Täglich irgendwelche Arbeitstreffen von städtischen Beamten und städtischen Betrieben. Man hat generell den Eindruck, daß die gegenwärtige Phase mehr von Einzelvorhaben als von Strukturdebatten und Konzeptdiskussionen beherrscht wird.

Weiter: Es gibt täglich einen Beitrag zu den Großberliner Reizthemen „Großflughafen“, „Hauptstadt“ und „Olympia“. Es gibt aus Ost-Berlin Berichte über unbeirrt weiter funktionierende Machtstrukturen und über abenteuerliche Geheimverhandlungen zwischen westlichen Großinvestoren und östlichen Wendehälsen. Es gibt die merkwürdigsten Zeitungsanzeigen über phantastische Gewerbegrundstücke in der DDR, über Wochenendhäuser und Pachtangebote für Jagdreviere. Es gibt Rettungsinitiativen für alte Häuser, die nicht zum Zuge kommen, weil plötzlich die Eigentumsfrage neu gestellt wird. Es gibt Tausende von Zulassungsanträgen von privaten Gewerbe- und Dienstleistungsbetrieben, die nicht bearbeitet werden. Es gibt, laut Aussagen des Arbeitsamtes, bis heute keinen nennenswerten Berufspendlerstrom zwischen Ost und West. Aber es gibt alte Industriebetriebe in Berlin, die in Vorbereitung einer betriebswirtschaftlichen Wiedervereinigung Kooperationsverträge mit den inzwischen verstaatlichten ehemaligen Filialen im Osten geschlossen haben. Es gibt also viele Zeichen für beginnende Verknüpfungen zwischen Insel und Umland, wobei das Einzelne, Planlose, Unkontrollierte die Szene beherrscht.

Pläne, Projektionen,

Diskrepanzen

West-Berlin stand bis zur Öffnung der Mauer vor einer kritischen Phase expansiver Stadtpolitik aufgrund der drastischen Aus- und Übersiedlungsströme. Um mit diesem Problem fertigzuwerden und trotzdem Perspektiven für einen stetigen Wohnungsbau zu eröffnen, hatte sich der Senat auf ein Modell der „Inneren Vedichtung“ der Inselstadt verständigt, das sehr schnell in ein konfrontatives Entwicklungsmodell münden kann. Die erste Frage, die die entstehende Region Berlin heute stellt, ist, ob auch unter den neuen Vorausetzungen an dem Modell der „Inneren Verdichtung“ festgehalten oder ob dieses durch ein Modell des „Wachsens mit der Region“ ersetzt wird. Die Antworten der Planer und Baupolitiker dazu sind sehr unterschiedlich:

-Eine Gruppe behauptet, daß gegenwärtig gar keine planerischen Projektionen möglich sind, weil sich der verfassungsmäßige Rahmen für eine zukünftige Entwicklung in der DDR völlig im Umbruch befindet und verläßliche Zukunftsbilder erst wieder dann formuliert werden können, wenn dieser Rahmen neu definiert ist.

-Die zweite Gruppe will sich nicht zum Mitschuldigen eines Ausverkaufs der DDR machen und vor allem das ländliche Umfeld West-Berlins vor einer Lawine westlicher Zivilisationsschäden bewahren. Beide Gruppen gehören uneingestanden zu den Vertretern der Zweistaatentheorie, weshalb sie sich am liebsten mit einer Perfektionierung der Inselverwaltung identifizieren und planerische Ansprüche an das benachbarte Umland als anmaßend zurückweisen.

-Eine dritte Gruppe sind die umweltbetonten Technokraten. Das Rückgrat ihrer Konzeption ist ein wieder zusammengefügtes Schienenverbundnetz in Stadt und Region, dessen Haltepunkte zu Schwerpunkten der zukünftigen Siedlungsentwicklung und dessen Zwischenräume zu geschützten Landschaftszonen gemacht werden sollen. Dieses Bild ist prinzipiell zeit- und grenzenlos, überaus konsensfähig und darum ungehemmt in allen Grenz- und Schwellenfragen.

-Eine vierte Gruppe und Minderheit sind die triumphalistischen Metropolisten, deren Traum eine Frankfurt übertrumpfende Skyline und die Hauptstadtperspektive ist.

Alle Positionen haben gemein, daß sie die Region - Ost -Berlin wie das ländlich/kleinstädtische Umland - noch als Objekt, als Projektionsfläche für eigene Wünsche, Verzichte und Berührungsängste betrachten und nicht als Subjekt, das mit eigenen Bedürfnissen und Ansprüchen an die Inselstadt herantritt.

Ein wichtiger Grund für diese Blockierung des perspektivischen Denkens ist, daß zur Zeit in der DDR gar kein planendes und disponierendes Gegenüber sichtbar ist. Die alten zentralistischen Institutionen und Schaltstellen (Bezirksparteileitungen) sind paralysiert, die kommunalen Vertretungen agieren in einem rechtlich weitgehend undefinierten Raum, die gesellschaftliche Basis der lokalen Vertretungen ist in Auflösung begriffen. Die verschiedenen Runden Tische sind mit kurzfristig zu entscheidenden Einzelfragen eingedeckt und weit davon entfernt, das von ihnen erwartete Reformpaket - Verfassungsreform, Steuer- und Finanzreform, Eigentumsreform, Kommunalreform, Bau- und Planungsgesetzgebung - überhaupt nur denken zu können.

Die Finanzreform, wie immer sie ausfällt, wird die Gemeinden und Städte schlechter stellen als jede westliche Kommune und damit den Zwang zur Erschließung zusätzlicher Ressourcen - Grundstücksverkauf, Baulandschaffung, Verkauf von Betriebsanteilen u.a. - automatisch erzeugen.

Bei der Eigentumsreform nimmt jeder an, daß sie die DDR in Rechtsstreitereien verwickeln wird, weil viele der Rechtsakte von Vergesellschaftungsvorgängen plötzlich nicht als wirksam anerkannt werden oder diese Akte der Form noch gar nicht zu Ende geführt worden sind. Wer gehört hat, wie die Deutsche Bauernpartei auf ihrem Parteitag im Januar um ihr LPG-Eigentum gezittert hat, kann ermessen, welche Strukturverschiebungen in der DDR plötzlich denkbar sind.

Für die Linke in West-Berlin und die Regierung heißt dies: Von den Umwälzungen und Durststrecken, die der DDR bevorstehen, kann sich die ehemalige freie Insel Berlin nicht abkoppeln, es wird einen weiteren Druck auf die Wohlstandsmetropole geben. Die Perfektionierung der Inselverwaltung ist jedenfalls keine tragfähige Antwort auf diese Herausforderung.

Konsequenzen

Aus diesem Grund wird sich eine neue Stadtpolitik offensiv mit dem akuten Wohlstands- und Stabilitätsgefälle zwischen der Stadt und ihrem Umland auseinandersetzen müssen. Da sich in diesem Zusammenhang der kontinuierliche Übersiedlerstrom zu einem existentiellen Problem ausweitet, war die Ankündigung des Berliner Bausenators, zukünftig auch wohnungspolitische Stabilisierungsmaßnahmen in Ost-Berlin zu finanzieren, ein richtiges Signal.

Die Stadt selbst muß zu einem Generator produktiver Lebens und Arbeitsverhältnisse im größeren Umfeld werden, und alle politisch Verantwortlichen müssen weiteren Destabilisierungsprozessen entgegenwirken. Hierzu gehört u.a., daß sie die beginnende spekulative Kommerzialisierung des Boden-, Bau- und Wohnungswesens in der DDR nicht unterstützen, sondern mithelfen, diesen Bereich sozialstaatlich zu kontrollieren. Ähnliche Aufgaben bestehen im Verkehrs-, Energie- und Umweltsektor.

Die vom Vereinigungstaumel frustrierte Linke der Stadt kann die beschriebene Arbeitsperspektive weder verdrängen noch delegieren, vielmehr wird sie wohl einsehen müssen, daß in diesen Prozessen auch ein Stück ihrer eigenen Zukunft entschieden wird.

Sie muß sich also in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen rund um Berlin einmischen, Partei ergreifen und Bündnispartner suchen, um mitzuhelfen, demokratische Mitentscheidungs- und Kontrollinstitutionen aufzubauen. Im Vordergrund der Regionalentwicklung stehen dabei der Aufbau einer kommunalen Selbstverwaltung, ein wirksames Umwelschutz- und Planungsrecht, schnell greifende Instrumente der Spekulationsverhinderung und des Mieterschutzes sowie strukturpolitische Entwicklungsprogramme zum Ausbau der kommunalen Infrastruktur, des öffentlichen Nahverkehrs und für die verschiedenen dringenden Umweltschutzinvestitionen.

Eine große Schwierigkeit ist, daß die kooperative Einmischung nicht allein auf staatliche Subventionsversprechen ausgerichtet werden darf. So richtig es ist, daß es zu Umverteilungsprozessen zu Gunsten der DDR kommen muß, so wahrscheinlich ist es auch, daß es sehr bald zu scharfen Verteilungsauseinandersetzungen kommen wird, nicht nur zwischen Ost und West, sondern ebenso zwischen verschiedenen Regionen, Sektoren und Gruppen. Bei diesen zu erwartenden Konflikten kann es nicht darum gehen, mit moralischen Postulaten über den Dingen zu schweben, sondern den absehbaren Ungerechtigkeiten dieser Um- und Neuverteilung ist mit einer breiten Basis entgegenzutreten.

Wulf Eichstädt