ALDI ALLDA ALLHIN

■ Martiny, Keller, Hassemer etc. diskutierten über doppeldeutsche Kultur

Über 40 Jahre haben wir auf diesen Tag gewartet. Da mußte erst der gesamte Sozialismus darniederknien und sich deshalb eine illustre Gesellschaft zur Podiumsdiskussion ins Literaturhaus setzen - und siehe: schon haben es - nicht zuletzt dank großzügiger flankierender Definitionshilfe des einladenden FU-Institutes für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissenschaften - auch Kulturpolitiker öffentlich zugegeben, daß ihr Genre nicht nur von der Kunst allein lebt, sondern daß Kultur „die Gesamtheit der Wertvorstellungen, Meinungsbestände und Umgangsformen einer Gesellschaft“ sei. Und ob es von diesem geräumigen Sozio -Kulturbeutel gleich zwei gäbe allhier und allda, das sollten also am Sonntag vormittag WB-Kultursenatorin Anke Martiny, DDR-Kulturminister Dietmar Keller, WB-Exsenator Volker Hassemer sowie - leicht abgeschlagen in der Ecke sitzend - der 'Tagesspiegel'-Feuilletonist Bernhard Schulz unter Anleitung der FU-Kommunikatoren Klaus Siebenhaar und Erhard Schütz ergründeln. Und zwar unter dem mittlerweile schon stark angeschimmelten Motto „Zwei Staaten - eine Kultur?“.

Und während etwa der die längste Zeit (nämlich seit November) Minister gewesen seiende PDSler Dietmar Keller stets nur noch als „Mensch Keller“ nachtrauernd zu äußern sich traute, setzte sich seine vordenkende SPD-Kollegin vor allem in ihrer „Eigenschaft als Intellektuelle“ in den somit kurzfristig quasi-funktionsträgerfreien Raum. Der einzige, der an diesem Morgen nicht menschlich-akademisch, sondern politisch-praktisch in Sachen anstehender „gemeinsamer kultureller Aufgaben“ handlungsanweisen wollte, war dann ausgerechnet der zur Zeit ministro-pausierende Volker Hassemer. Der Anti-Christdemokrat, in dessen Kopf sich nach eigener Aussage die Begriffe „Kultur“ und „Nation“ nicht unbedingt spontan wiedervereinigen, entdeckte nicht nur die Notwendigkeit der Langsamkeit und Gründlichkeit, die die Kultur („wer sonst“) endlich pflegen müsse als Gegenmaßnahme gegen die angsterregende Schnelligkeit, die alle anderen Bereiche der Gesellschaft mitrisse.

Außerdem müsse man Räume, Methoden, Orte und Menschen finden, um die Differenzen zwischen den beiden Kulturen „zu erspüren“, um hernach - schließlich bedeute „Streitkultur“ nicht die Angst vor Bevormundung, sondern geradezu die Fähigkeit zur größtmöglichen Unverschämtheit und Einmischung - den Osten auf „die Möglichkeiten des Dezentralen, des Vielfältigen, des Föderalen“ aufmerksam zu machen und um vor allem - die Dörfer mit Visionen und Modellen auszurüsten, damit diese sich vor der drohenden Gefahr von Aldi für die Dorfstruktur schützen können. Im übrigen verstehe er gar nicht, warum sich die Kulturpolitiker hier nicht einmischen. Aber Herr Hassemer, fragen Sie doch einfach mal Ihren Bundeskanzler und Ihren angeheirateten Wirtschaftsminister, wie die das fänden!

Die Rolle der Pessimistin, ja geradezu der Betrogenen, spielte Anke Martiny: Worte und Werte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Liberalität, Weltbürgertum - all das, wofür sie Sozialdemokratin sei, wäre hin. Sie könne es nicht zulassen, daß sie jetzt, wie einst in Bayern, in der DDR überall „Nie-wieder-Sozialismus-Plakate“ sehen müsse. Die moralischen Grundlagen der Kulturpflege seien genau wie die gesamte politische Kultur und das Verhältnis von Staat und Bürger auf Jahre, wenn nicht gar auf Generationen zusammengebrochen, und eine gemeinsame Kunst hätte es - wie sich etwa beim Film oder in der Malerei zeige - ohnehin schon lange nicht mehr gegeben. Die grundlegend unterschiedlichen Wertesysteme und Erfahrungswelten hätten das Denken derart verschieden konditioniert, daß es noch nicht einmal gemeinsame Bilder gebe, über die man sich verständigen könne. Wie also solle man kulturelle Gemeinsamkeiten schaffen, wenn grenzüberschreitend höchstens Negativerscheinungen wie Provinzialismus, Fremdenfeindlichkeit, Patriarchat und Konsumkultur seien: „D -Mark kommste, bleiben wir/ kommste nich, gehn wir zu Dir.“

Der „Mensch Keller“ („Man kann es nicht vermeiden, daß man eine Vergangenheit und eine Gegenwart hat“) sonntagsredete als einziger von Kultur. Schließlich hätten Ost und West eine gemeinsame Vorgeschichte, diese sei die Majorität, und eine getrennte eigene Geschichte, die die Minorität sei, rechnete der Minderheitenjäger. Dennoch solle man mit dem Begriff „deutsche Kulturnation“ vorsichtig umgehen, es sei denn, man benutze ihn in den derzeitig gültigen europäischen Grenzen und ohne Österreich (wobei Bernhard Schulz diesmal übrigens seinen Einsatz für die Wolgadeutschen verpaßte) wodurch immerhin die völlige Untauglichkeit dieser pseudoschöngeistigen und scheinunpolitischen Maas-Memel -Verbindungsparole in der derzeitigen Diskussion bewiesen wäre.

Ansonsten flehte er beinahe darum, man solle nicht ständig versuchen, den Eindruck zu vermitteln, daß die DDR kurz vor der Annexion stehe. Denn mit der Angst, die das verursachte, könne man nicht zusammenwachsen. Diese Bedenken wiederum teilte er mit einigen Diskutanten im Publikum: Man solle den DDRlern nicht ständig nur einreden, daß sie in einem System der totalen Korruption gelebt hätten, dies brächte nämlich zwangsläufig ein Volk ohne Gedächtnis und ohne Identität mit sich.

Vielmehr müßte jetzt erst recht an der Entwicklung einer eignen Identität gearbeitet werden, sonst käme es zur Katastrophe. Im übrigen solle man endlich mit dieser kulturellen Bilanzierung, mit dieser Rechnung, was denn nun die DDR in die neue Ehe positiv einbringen könne, aufhören. Genau: Das war's für heute. Wir treffen uns wieder in einer Woche zu unserem nächsten supervisionären Selbstfindungsencounter-Meeting nach der Sigmund Seelenbinder-Methode. Erstattungsberechtigt ist die vaterländische Rückwärts-Versicherungsanstalt.

Gabriele Riedle