Kopfstöße und Peitschenschläge

Bei der 19. Weltmeisterschaft im Billard-Kunststoßen ließen die Akteure die Kugeln tanzen  ■  Aus Barcelona Nikolas Marten

Philip Marlow, mal wieder bourbongeschädigt, mit verruchter tiefdekolletierter Schönheit ohne klare Biographie, gähnt. Vor seinen Augen spielen unter trübem Neon in einer Bar an der Peripherie Hollywoods zwei sich unerkannt wähnende Killer Billard um Dollarbündel.

Szenenwechsel: Zu Spinettklängen und leichtem Harfenzirpen streicheln hübsche Adonisse, in rüschenverziertem Frack, mit langen Rosenholzstöcken Elfenbeinkugeln über grünen Samt. Kronleuchter, strahlender Glanz, von zarten „Achs“ und „Ohs“ korsettgeplagter Hofdamen geschmücktes Ambiente im vorrevolutionären Versailles des 18. Jahrhunderts.

Zwei Bilder, die einem Spiel, einem Sport das Image für die Ewigkeit anhafteten: Billard. Vor einem halben Jahrtausend in den Klöstern Oberitaliens entdeckt, kam Billard, das seinen Namen aus dem französischen Wort für Kugel - „bille“

-bezog, beim vergnügungssüchtigen Geldadel der Epoche Louis XIV. zur ersten Blüte. Bis zum Ende des letzten Jahrhunderts waren es Franzosen, die die Kunst mit der Queue, wie man den mit einer Lederkuppe versehenen Holzstab nennt, am besten beherrschten. An rechteckigen Schiefer- und Marmortafeln, mit grünem Tuch bespannt, wurde um die Ehre gekämpft.

Später war es in Wiener Kaffeehäusern, Berliner Ballsälen oder Pariser Casinos ausnahmslos die männliche Jeunesse doree und Haute Volee, die dieser Kunstform des Kugelstoßens frönte. Erst im Amerika der Prohibition änderte sich die Spielerklientel. Von nun an bestimmte der Lauf des schweren Balls Verlust und Gewinn hoher Geldsummen, bisweilen sogar das pure Leben.

Aus dem ursprünglichen „Karambolage-Billard“ entstanden bis heute mehrere Disziplinen: Cadre-, Kegel-, Einband- und Dreibandbillard sind die bekanntesten Spielvarianten. Die sicherlich spektakulärste, aber am wenigsten bekannte, ist das „Kunststoßen“, bis in die 40er Jahre auch noch „Phantasie-Billard“ genannt. Früher öffneten die großen Meister nach einem Match ihre Trickkiste und zeigten dem staunenden Publikum Stöße, die der Kugel aberwitzige Pirouetten, seltsame Ellipsen und erstaunliche Kurven abverlangten. Doch immer erreichte das Elfenbeinrund mit unglaublicher Gesetzmäßigkeit und gegen jede Physik das gewünschte Ziel. Aus diesem Ballzauber wurde ein Sport.

Am Sonntag gingen in Barcelona die 19. Weltmeisterschaften des Kunststoßbillards zu Ende. Zehn Teilnehmer aus acht Ländern hatten in dem vier Tage währenden Wettkampf bei jeweils drei Versuchen 68 vorgeschriebene Figuren zu lösen. Austragungsort war der altehrwürdige Billardclub in einem Patrizierhaus im Zentrum der katalanischen Kapitale. Die Ränge waren vom ersten Tag an voll besetzt mit geladenen Gästen. Auf einer kleinen Empore versammelten sich die Funktionärsdelegationen, meist selber ehemalige Spieler, an Coctailtischchen mit Landesfähnchen geschmückt. Die Wettkämpfer thronten erhöht am Saalende. In der Mitte, dumpf beleuchtet, stand der Spieltisch.

Raymond Steylaerts, gut beleibter 56jähriger Veteran der Queue-Artistik, war der große Favorit der Meisterschaften. 1950 hatte er an gleicher Stelle zum ersten Mal das Siegerpodest bestiegen. Der gelernte Diamantschleifer aus Antwerpen erlangte 14 europäische Titel, wurde sechsmal Weltmeister und ist zudem amtierender Rekordhalter.

Doch nach zwei Tagen war es der Mexikaner Rojas Gonzales, der unaufholbar davongeeilt schien. Als einziger in schwarzes Fracktuch gehüllt, hatte der kleine Südamerikaner mit dem Aussehen Käpt'n Nemos von Jules Vernes „Nautilus“ auch Höchstschwierigkeiten cool gelöst.

Die Zuschauer, Typ zwischen nägelbeißendem bleichem Mathematikstudenten und fast greisem mitschreibendem Statistikfanatiker, ging begeistert mit. Selbst knapp vergeigte Bälle wurden enthusiastisch gefeiert, leichtfertig vergebene mitfühlend lamentiert.

Am Samstag, dem dritten Tag der Kompetition, scheiterte Rojas, von Kameras und spanischer Volksmusik, die aus den Gängen hereinschallte, sichtlich irritiert, an den leichtesten Aufgaben. Plötzlich konnte sich die Hälfte der Teilnehmer wieder Titelhoffnungen machen. Der Österreicher Andreas Horvarth, Sechster im Schlußklassement, erklärt die Formschwankungen so: „Billard ist zu 80 Prozent Kopfsport. Man braucht die absolute Kontrolle über die eigene Feinmotorik im extremen Bereich. Nur dann hat man Erfolg.“

Angelo Casales, früh ergrauter kleiner Sizilianer, begann am Sonntagmorgen furios. Die Karikatur eines verkannten Mafiosi legte eine tolle Serie hin, doch patzte dann bei sieben Aufgaben in Folge. Die Belgier, der eine gähnend, der andere bis zum Exzeß in der Nase puhlend, gaben nicht mehr alles. Anders der katalanische Börsenbrocker Xavier Fonekllosa. Des dreitägigen Flirtens mit den zahlreichen Hostessen überdrüssig, legte er plötzlich los. Vom siebten Platz kam er mit dem 68. und letzten Stoß noch zu bronzenem Blech.

Auch der zehnmalige Südamerika-Champion Rojas, der seine Führhand mit grünem Satinhandschuh und darübergestülptem Siegelring verzierte, konterte mit vier gelungenen Spiralen -Kopfstößen und Peitschenschlägen und erreichte am Ende noch den gefeierten zweiten Platz. Doch gefährden konnte er den neuen Weltmeister Jean Reverchon, einen 26jährigen Pariser, nicht mehr. Mit 303 Punkten distanzierte der die Konkurrenz dank eines makellosen Schlußspurts.

Dennoch liegt dieser Wert achtzig Einheiten unter der Weltbestmarke. Ein Umstand, der von den Zehn auf die Kugel geschoben wurde. Da die Produktion heute illegal ist, stammen die Elfenbeinkugeln sämtlich aus jahrzehntealten Beständen. Luftfeuchtigkeit und Temperatur provozieren Unwuchten, die das „Innenleben der Kugel“, wie Horvath sagt, und ihren Lauf negativ beeinflussen.