„Die deutsche Einigung enthält so viele Chancen für Europa“

Der Deutschland-Experte von Solidarnosc, Kasimierz Woycicki, wünscht der westdeutschen Politik längeren Atem und mehr Phantasie  ■ I N T E R V I E W

taz: Wie beurteilen Sie die Haltung der Regierung Mazowiecki zur deutschen Frage?

Kazimierz Woycicki: Es gibt bei uns eine starke Strömung, die nicht nur sieht, daß die deutsche Einheit kommt, sondern diese Einheit auch will. Viele Leute bei uns sind der Meinung, daß der Einigungsprozeß reibungslos verlaufen sollte. Die ökonomischen und sozialen Spannungen - vor allem in der DDR - sollten jetzt gemildert, nicht angeheizt werden. Sie schlagen sich ja doch nur als Nationalismus nach Außen nieder.

Deutschland sollte sich nicht gegen irgendjemanden vereinigen sondern mit seiner Einigung gleichzeitig die europäische Einheit fördern. Die deutsche Einheit ist nicht nur die Sache der Deutschen. Ich sage das weniger mit Blick auf die Vergangenheit sondern, weil die deutsche Einigung so viele Chancen für Europa enthält.

Hält die westdeutsche Politik sich an diese Maximen?

Manchmal sehe ich es als ein Unglück an, daß in diesem Jahr in der BRD der Wahlkampf ansteht. Die westdeutsche Politik könnte jetzt einen längeren Atem und etwas mehr Phantasie gebrauchen.

Offenkundig laufen der Einigungsprozeß und die gesamteuropäische Integration mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ab. Kann man synchronisieren?

Wir sind alle etwas beunruhigt, daß es angesichts des hohen Tempos der Einheit nicht genug Initiativen gibt, den Aufbau Gesamteuropas zu beschleunigen. Der Europa-Zug muß überhaupt erst auf die richtige Schiene gesetzt werden. Mazowiecki hat den Vorschlag gemacht, einen Europarat als ständiges Organ der Helsinki-Konferenz zu schaffen und damit dem Helsinki -Prozeß eine neue Bedeutung zu geben.

Besteht die Gefahr, daß die ostmitteleuropäischen Staaten überhaupt aus der europäischen Integration herausfallen?

Es gibt Ängste. Was wäre, wenn der Einigungsprozeß mit der östlichen Hälfte Europas bei der deutschen Einheit Halt machen würde? Es bestünde dann die Gefahr, daß Deutschland sich von der europäischen Einigung distanzieren und sich dieser ostmitteleuropäischen Region „politischer Leere“ zuwenden würde.

Wie realistisch sind die Pläne für regionale Staatenverbindungen, z.B. für eine Konföderation Polen -CSSR?

Das haben sich ein paar polnische Journalisten ausgedacht und es dann ihren westlichen Kollegen gesteckt. Eine solche Verbindung hat keine Chance. Worum es geht, ist eine regionale Betrachtung der Problematik dieser Länder. Das ist nicht nur ein politisches, sondern auch ein gesellschaftliches Problem. Es gibt in der deutschen Öffentlichkeit zu wenig Bewußtsein über das, was sich in seiner östlichen Nachbarschaft getan hat. Hat der demokratische Umbruch in der DDR nichts zu tun mit der Tatsache, daß Solidarnosc vor fast 1o Jahren einen Anfang gemacht hat? Man hat bei Euch den Blick allzu starr auf Gorbatschow gerichtet. Aber sind die Entwicklungen in der Sowjetunion nicht auch von der Entwicklung in Polen beeinflußt worden?

Hat Mazowieckis Vorschlag, Polen an der Konferenz der Vier Mächte mit den beiden Deutschlands zu beteiligen, eine Realisierungschance?

Wenn es der Regierung der BRD wirklich ernst ist mit ihrem Engagement für das ganze Europa, so müßte sie es begrüßen, wenn die Nachbarn Deutschlands sich mit an den Verhandlungstisch setzen.

Die Nachbarn, die Opfer der deutschen Agression wurden?

Das auch. Selbstverständlich geht es uns darum, daß ein künftiger deutscher Staat die polnische Westgrenze anerkennt. Man sollte diese Frage aber mehr unter dem Blickwinkel unserer zukünftigen Beziehungen sehen. Alle Nachbarn, die es wünschen, sollten teilnehmen können. Es geht nicht darum, die völkerrechtliche Rolle der Vier Mächte in Frage zu stellen. Auch will niemand der Einheit Hindernisse in den Weg legen. Unsere Teilnahme ist eine Frage der Atmosphäre, der Stilbildung - fühlen sich die Deutschen schon wieder so stark, das alles beiseite schieben zu können?

Ist es noch notwendig, daß die Siegermächte einen Friedensvertrag mit Deutschland abschließen?

Das ist sehr die Frage. Die KSZE-Konferenz könnte ein entsprechendes Dokument verabschieden. Aber brauchen wir das alles 45 Jahre nach Kriegsende? Es waren und sind die westdeutschen Regierungen, die die Forderung nach dem Friedensvertrag wachgehalten haben und sich jetzt mit den komplizierten Folgen dieser Rechtskonstruktion konfrontiert sehen. Der Kern des Problems besteht darin, ein neues Gleichgewicht in Europa zu schaffen. Verträge und Konferenzen sind hierzu nur Mittel.

Wir sind Zeuge des raschen Auseinanderfalls des Warschauer Paktes. Obwohl die Frage der sowjetischen Truppenstationierungen mit dem Pakt nicht direkt verbunden ist - wie soll man das Problem angehen?

Man sollte einige Prozesse nicht künstlich beschleunigen. Es wäre das beste, wenn Polen und die UdSSR eine gemeinsame Diskussion über ihre künftigen Sicherheitsinteressen führen und sich dann im Konsens entscheiden würden. Auch hier geht es ums europäische Gleichgewicht.

Interview: Christian Semler.

K. Woycicki ist einer der Leiter des Studienzentrums für internationale Politik in Warschau und langjähriger Aktivist der demokratischen Opposition in Polen.