Stellungskrieg um den Schnellen Brüter in Kalkar

Das Bundesverfassungsgericht verhandelt heute über Töpfers Kalkar-Weisung / Bonn will die Begutachtung möglicher Rückwirkungen der Tschernobyl-Katastrophe auf das Sicherheitskonzept des Schnellen Brüters verbieten / Die Brüterzunft fährt hinter den Kulissen wilde Attacken gegen die Düsseldorfer Genehmigungsbehörde  ■  Von Gerd Rosenkranz

Dem Mann in der ersten Reihe sieht man an, daß er leidet. Er schüttelt den Kopf, rauft sich die Haare, vergräbt schließlich kurz das Gesicht in den Händen. Erwin Kugler hat bei den Zusammenkünften der bundesdeutschen Atomgemeinde wahrlich nichts mehr zu lachen. Denn die wütenden Tiraden, die da von jeweils wechselnden Referenten niederprasseln, gelten ihm ganz persönlich. Eigene Beiträge des Ministerialrats und Physikers Kugler sind hier schon lange nicht mehr gefragt. In den vergangenen fünf Jahren ist der Beamte zum Prügelknaben Nummer eins der bundesdeutschen Atomgemeinde aufgestiegen. Im nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministerium leitet Kugler jene Abteilung, die das Mammut-Genehmigungsverfahren für den Schnellen Brüter SNR -300 bearbeitet beziehungsweise - so sehen es seine Kontrahenten von der Schnell-Brüter -Kernkraftwerksgesellschaft (SBK) - verschleppt. Dabei ließen Kugler und die Seinen insgesamt 17 Teilgenehmigungen in dreizehn Jahren anstandslos passieren, die letzte im Oktober 1985. Seither herrscht Ruhe an der Genehmigungsfront. Der Koloß von Kalkar liegt im Koma. Und daß sein „Höllenfeuer“ je entfacht wird, glauben mittlerweile nur noch - je nach Perspektive - hartgesottene Optimisten oder Pessimisten.

Wenn heute die Karlsruher Richter in den roten Roben zum zweiten Mal nach 1978 über dem Sieben-Milliarden-Projekt brüten, wird Kugler wohl wieder in der ersten Reihe Platz nehmen. Persönliche Angriffe hat er vor dem hohen Gericht nicht zu befürchten. Aber Kugler weiß: „Wenn wir gewinnen waren's die Juristen, wenn wir verlieren wars der Kugler.“ Dabei ist ungewiß, ob bei der Verhandlung - eine Entscheidung wird voraussichtlich erst nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen fallen - mehr herauskommen wird, als das nächste Kapitel einer unendlichen Geschichte.

Ausgelöst hatte den Verfassungsstreit zwischen der Bundesregierung und der NRW-Landesregierung eine „verfahrensleitende Bundesweisung“, mit der Bundesreaktorminister Töpfer den Düsseldorfer Genehmigungsminister und Kugler-Chef Jochimsen zum Verzicht auf ein neues Gutachten zwingen will, das mögliche Konsequenzen der Tschernobyl-Katastrophe für die „Sicherheitsphilosophie“ des Brüterprototypen am Niederrhein ausleuchten soll. Töpfers stramm atomfreundliche Berater von der Reaktorsicherheitskommission (RSK) waren bald nach dem Unfall in der Ukraine zu dem Schluß gekommen, daß „ein Unfall mit vergleichbaren Folgen wie in Tschernobyl beim SNR -300 auszuschließen“ sei. Mit dem RSK-Persilschein wollte sich die Düsseldorfer Genehmigungsbehörde nicht zufriedengeben. Unumstritten ist, daß der sowjetische Reaktor - bei allen konzeptionellen Unterschieden zum SNR -300 - durch einen Vorgang zerstört wurde, der unter dem Namen Bethe-Tait-Störfall auch beim Brüter im Zentrum aller Sicherheitsanalysen steht. Bei diesem „Exkursionsunfall“ schwillt die atomare Kettenreaktion explosionsartig und damit unbeherrschbar an. Kritiker hatten der RSK vorgeworfen, die mit dem Tschernobyl-GAU verbundene „Gelegenheit“ für eine Neubewertung der Brütersicherheit nicht nutzen zu wollen. „Zum ersten Mal in der Geschichte der Reaktorentwicklung“ bestehe mit den Informationen über den Unfallablauf die Möglichkeit, bisher rein theoretische Modellrechnungen real zu überprüfen. Genau das wollten weder die RSK noch der Bundesreaktorminister. Jochimsen klagte Anfang November 1988 in Karlsruhe gegen das „Prüfverbot“.

Seither vollzieht sich der Kalkar-Streit mehr denn je nach den Gesetzen des Stellungskrieges. Während der Brüter in den Medien regelmäßig in einem Atemzug mit den Atomruinen von Wackersdorf und Hamm-Uentrop genannt wird, ist für den harten Kern der Brüter-Freunde die Sache längst nicht entschieden. Der Ton und die Methoden dieser Auseinandersetzung werden aber zunehmend rüder. So kursiert seit September ein gemeinsames Pamphlet der SBK und der „Internationalen Natrium-Brutreaktor-Bau Gesellschaft (INB)“, das wohl bei passender Gelegenheit in die Öffentlichkeit lanciert werden soll. Unter dem Titel „Die 'Bethe-Tait-Remonstration‘ als Beispiel für die Handhabung des Genehmigungsverfahrens für das KKW Kalkar durch den MWMT (Wirtschaftsminister NRW, Red.) nach 'Recht und Gesetz'“ schießen sich die Kalkarbetreiber auf Kugler und seine Crew ein. Zur Vorgeschichte des bisher unveröffentlichten Papiers gehört eine von Töpfer akzeptierte RSK-Empfehlung, wonach weitere Untersuchungen zur Bethe-Tait-Problematik nicht angezeigt seien. Die bis dato angewandten Berechnungsmethoden entsprächen, so die RSK, auch heute noch dem Stand von Wissenschaft und Technik, der „Kernzerlegungsstörfall“ sei beherrschbar. Die voluminöse Antwort (Remonstration) aus Kuglers Abteilung löste bei der RSK, so wird in Bonn kolportiert, Wut und Empörung aus. Die Düsseldorfer Beamten hatten gewagt, der hochangesehenen RSK -Professorenschar inhaltliche Fehler und „blamable Formulierungsschwächen“ nachzuweisen.

In dem SBK/INB-Antwortpapier wird nun dem Düsseldorfer Ministerium vorgeworfen, „neue Maßstäbe an altbekannte Fakten“ anzulegen. Unter „grober Verfälschung der Wirklichkeit“ verlange man jetzt, daß die Belastung des Reaktorkessels im Falle eines Bethe-Tait-Störfalls „zweifelsfrei auf der sicheren Seite“ liegen müsse. Eine solch „radikale Forderung“ sei „unerfüllbar“. Bisher habe die Behörde nur eine „vernünftige obere Grenze“ der Belastung als Genehmigungsvoraussetzung verlangt. Die Remonstration enthalte „keine substantiellen Argumente“ und stelle „eine Sammlung von sachlich falschen Aussagen, Mißverständnissen, tendenziösen Bewertungen und bloßen Pedanterien dar“.

Auch die Motive der Genehmigungsbehörde liegen, so die SBK/INB-Autoren, auf der Hand: Es solle ein „neuer Begutachtungsprozeß eingeleitet werden, der sachlich ungerechtfertigt und terminlich unkalkulierbar ist“. Das entspreche „konsequent der öffentlich erklärten Absicht der NRW-Landesregierung, das Projekt zu beenden“.

Kugler und seine MitstreiterInnen werden mit dieser Einschätzung ihrer Arbeit leben müssen. Die geschrumpfte Brütergemeinde schimpft das schleppende Verfahren sowieso ein ausgemachtes Schurkenstück. Aber auch GegnerInnen des Milliardenprojekts klopfen den Beamten immer häufiger verschmitzt lächelnd auf die Schulter. Sie halten Kuglers „Strategie“ für geeignet, dem Land Entschädigungsleistungen in Milliardenhöhe zu ersparen. Denn, so die Erwartung, spätestens nach einer von der SPD gewonnen Landtagswahl im Mai werde die Atomgemeinde den Koloß freiwillig einmotten. Gegenwärtig kostet die Anlage, die nun schon seit Mitte 1986 im „Abwartezustand“ vor sich hingammelt, satte 105 Millionen jährlich. Und statt Strom zu liefern und Plutonium zu erbrüten, flattert der SBK Monat für Monat eine Stromrechnung über 3,5Millionen Mark ins Haus.

Fast schon flehentlich bittet Kugler, man möge ihm und seinen Leuten „die technisch sauberen, wissenschaftlichen Motive nicht absprechen“. Diese Motive haben die Genehmigungsbehörde veranlaßt, nun doch eine neue Untersuchung der Bethe-Tait-Problematik in Auftrag zu geben

-im Rahmen der Begutachtung der von der SBK bereits beantragten Betriebsgenehmigung. Der Auftrag für die neue Expertise, an der auch ein US-amerikanischer Brüterspezialist beteiligt sein wird, enthält eine allerdings wohl einmalige und groteske Einschränkung - eine unmittelbare Konsequenz aus der Bundesweisung, über die heute in Karlsruhe verhandelt wird: Alle Aspekte, die mit den Erkenntnissen aus dem Tschernobyl-Unfall zusammenhängen, dürfen nämlich nicht angesprochen werden. Denkverbot.

Wie der Verfassungsstreit in Karlsruhe ausgehen wird, scheint völlig offen. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in Berlin in einer Stellungnahme die Position Nordrhein -Westfalens auf der formaljuristischen Ebene weitgehend bestätigt. Sollte jedoch in Karlsruhe auch inhaltlich verhandelt werden, könnten die Verfassungsrichter mangels eigenen Einblicks in die hochkomplexe technische und kernphysikalische Materie geneigt sein, den Worten der renommierten RSK-Professoren mehr Gewicht beizumessen als denen der Düsseldorfer Genehmigungsbeamten. Ein neuer Propagandafeldzug für den Brüter wäre vorprogrammiert - und Erwin Kugler mehr denn je der Buhmann.