Mit leeren Taschen, aber nicht hängenden Köpfen

■ Der Rostocker Pastor Jochen Gauck, Neues Forum, über „DDR-Stimmungen während der Stimmungsmache“

Eingeladen hatte ihn die Landeszentrale für politische Bildung als Vertreter des Neuen Forums Rostock, gesprochen aber hat er als Dolmetscher des DDR-Volkes, das, flüchtend und bleibend, den Ost-West-Konflikt zu den Akten gelegt und den Weg für ein geeintes Deutschland und ein ganzes Europa freigeräumt hat, und das jetzt, vor allem bei den Linken, so schlechte Karten hat. Die Einheitsschreier von Leipzig, für Heinrich Albertz „deutsch-nationale bis faschistische Sprüche„macher, Jochen Gauck dolmetscht ihr Fahnezeigen und Kohlbejubeln als: „Ich habe kein Vertrauen mehr.“ Daß die, die ihre Symbole aus dem schieren Protest beziehen, ihn irgendwann sagen als:“ Wir wollen Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit“, ist sein Ziel.

Günther Grass apelliert an die Politiker, gegenüber der „in sich berechtigten Volksstimmung...ein Konzept zu entwickeln, das für uns und unsere Nachbarn zuträglich ist“ (taz -Interview 12.2.90). Dagegen sucht der politische Seelsorger Gauck erstmal Verständnis für das System der historisch gewordenen Ängste und ihrer politischen Äußerungsformen. „Nicht jeder, der jetzt nach dem einig Vaterland ruft, ist einer, mit dem Sie nicht reden müssen.“

Der Akzent liegt auch auf jetzt.Gauck macht keinen Hehl aus seinem Dissens zu der einheitskritischen, grün -alternativen Berliner Bärbel-Bohley-Ecke, aus der das Neue Forum kommt und zu der er als früher kirchlicher Widerständler eher zählt als die liberalen Schichten, die später zum Forum gestoßen sind. Die Berliner halten an ihrer Sehnsucht nach einer Alternative zum entwickelteren Westen fest, Gauck folgt dagegen der Sehnsucht der demonstrierenden DDR-Massen, „hier anzukommen“. Und hier meint den ökonomischen und demokratischen level der Bundesrepublik. Gauck: „Das ist eine schlechte Zeit für innovative Gesellschaftsmodelle.“

Das ist nur oberflächlich der Realo-Fundi-Konflikt der Grünen, denn die DDR - „Realos“ beziehen ihre Handlungsspielräume von Massen mit revolutionierender Kraft bzw. Schwäche.

Das eigentlich Interessante war Gaucks Einblick in die „Stimmungen während der Stimmungsmache“. „Honecker kurz vorm Knast, die führenden Leute aus der Partei ausgeschlossen, die Partei zieht aus ihren Häusern aus und gibt ihr Geld ab. Die Staatssicherheit ist vernichtet. Die Mauer ist abgebaut. Wenn einer uns das vor einem Jahr gesagt hätte, daß das sein wird, hätten wir das Gefühl gehabt: Dann gehen wir nicht mehr, dann fliegen wir. Und jetzt schleicht alles müde dahin. Die Revolutionäre sind völlig gestreßt. Und einige sagen, ich kann auch gar kein neues Konzept mehr entwickeln, das sollen mal andere machen. Jetzt hoffen wir nicht mehr auf unsere Machtzentralen, sondern auf die aus Bonn.“ Ausdruck, so Gauck, eines „Überlebensgerüstes, das auf Angst angewiesen ist“. Als im Dezember die Angst vor dem Geheimpolizeistaat erledigt war, folgte im Januar die Angst, daß sich dennoch im eigenen Lebensbereich nichts ändert. Die dritte Angst geht jetzt um und ist Realität: die alten Genossen Kombinatsdirektoren mausern sich zu Vertretern nicht der sozialen, sondern der freien Marktwirtschaft. Aus Angst, wieder die Gelackmeierten zu sein, packen viele die Koffer, ziehen in die Turnhallen. Dazu die neueste Angst, wie sie sich am Empfang der Regierung Modrow als einer Gruppe von „Bettlern und Chaoten“ durch die Bundesregierung festmachte: „die Angst, nicht erst genommen zu werden“, ohnehin keinen Einfluß aufs eigene Geschick zugestanden zu bekommen.

Das Programm des Kandidaten für die Volkskammerwahl, Jochen Gauck: Den eingefleischten Mechanismus von Angst und Anpassung als Krankheit zum Tode begreifen. „In Mecklenburg sagt man: 'Man muß nicht daran tot bleiben.'“ Die DDR zur Einheit zu führen, nicht als „Partnerin“ - dazu ähnelt der Gang zu sehr dem eines intensiv Kranken an den Tropf - aber mit Würde. „Wenn auch mit leeren Taschen so doch nicht mit hängenden Köpfen.“ Und dann endlich über was anderes nachdenken.

Uta Stolle