Mit Sex zur Perestroika

■ Auftritt des „Meiga-Projekts“ (Bodensee) beim Ostberliner Liedermacherfestival: Ganzheitliche West-Sex-Gorbi-Psycho-Botschaften für ausgehungerte DDR-Bürger

Hinter dem Geheimtip „Meiga - Projekt für eine humane Erde“ im Rahmen des Festivals des politischen Liedes (Ost-Berlin) präsentierte sich weder eine Liedermacherin namens Meiga noch Greenpeace: Sexpeace war angetreten, um die bislang vor Sekten, Psychogruppen und anderen Weltanschauungen beschützten DDR-Körper zu retten vor menschlicher Entfremdung, Intrigen und Krieg. Um unser frisches Ostfleisch wurde geworben, da die Fänger bei den mit derartigem Geschwätz überfluteten BRD-Bürgern nicht mehr erfolgreich sind. Einer der Solgans in Ost-Berlin: „Äußere und innere Perestroika.“

Die Bewegung - Keimzelle in Radolfzell am Bodensee (!) beantwortet auch („partei- und systemübergreifend“) die Grundfragen des Menschen nach Liebe und sexueller Erfüllung neu, denn „solange diese Fragen ungelöst bleiben, stehen alle anderen (!) politischen und ökologischen Konzepte auf sehr labiler Grundlage“. Das Grundprinzip „man kann nur treu sein, wenn man auch andere lieben darf“ entläßt den Europäer aus seinem Entscheidungsstreß. War doch der DDRler immer umzäunt und eingeschränkt von gesellschaftlichen Normen und Konventionen, die die Offenheit der Intimität verboten. Jede soll nun jedem und jeder jeder zwischen die Schenkel greifen dürfen.

Die Erweiterung der Sexualität in der großen Gemeinschaft wird mir mittels farbenfroher Diapositive bewußt gemacht. Ich komme ins Schwitzen. Wie habe ich bisher bloß gel(i)ebt? Meine geheimsten Befürchtungen werden laut: „Die Keimzelle Familie als Gefahrenzone Nummer eins, denn hier herrschen Angst, Haß und Gewalt. Die Zweierbeziehung als Inbegriff des kalten Krieges muß aufgegeben werden“.“ Wie weiter? Eine zweite sexuelle Revolution? Meiga, eine seit zwölf Jahren bestehende Forschungsinitiative, in der sich rund 100 Interessenten vereinigen, wollen 1991 ihr „Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung“ (ZEGG) realisieren.

Im Mittelpunkt dieses Projektes steht eine „Erotische Akademie“. Forschungsgegenstände sind Kunst, Kindererziehung und Jugend, Heilung/Medizin, Ernährung, Ökologie... Das Ziel sei eine dauerhaft gewaltfreie Gesellschaft jenseits von Ehe (und damit der Trennung von dem Partner und anderem Besitz) und Bordell (das sich lediglich auf die körperliche Befriedigung beschränke). ZEGG bietet die Alternative: ein Zusammenleben mit mehreren, nicht verbindlichen Partnern ohne Eifersucht, mit immer neuem Sex, in der Öffentlichkeit der Gemeinschaft, die - richtend - den großen Einblick in die kleinste Intimität hat.

Und Aids? Aids, so erfahre ich später, sei keine - wie bisher angenommen - Erkrankung aufgrund physischer Ursachen, sondern eine psychische, resultierend aus den überholten Moralvorstellungen, die dem noch Sexhungrigen das Seitenspringen verbieten - Aids als apostrophierte Folge mit dem uns bekannten Einschüchterungs- und Beklemmungseffekt. Aids als Ausdruck der Resignation. Ach so!

Klar, daß die Seminare zur Erleuchtung und zum Weiterstudium ihren (harten West-Mark-)Preis haben.

Britt Beyer