Erst Sportler, dann Ökos - und jetzt die Biedermänner

■ Geschichte, Alltag, Horror und Hoffnungen der DDR-RadfahrerInnen / Früher wurden sie als Individualisten, Spinner und „Fahrradterroristen“ diffamiert und verlacht - heute entwickelt sich eine selbstbewußte Massenbewegung

Freitag nachmittag auf der Schönhauser Allee in Ost-Berlin. Einigkeit in der Blechlawine, bläulich wabern die Autoabgase der zahlreichen Zweitakter, und inmitten all dieser Automacho-Ignoranz versucht sich eine Radfahrerin zu behaupten - bei uns in Ost-Berlin die niedrigste Kaste der Straßenbenutzer. Rot/Gelb-Phase, die Karawane heult auf, und demütig, am äußersten rechten Rand der Fahrbahn vegetierend, zähneknirschend den Berufsverkehr und Autos überhaupt verfluchend, strampelt sie über Gullys und Huckel. In DDR -Großstädten ist der Status der Radfahrer gleich Null, und das rührt nicht zuletzt daher, daß sich das Prestige des SED -Staates als Industriemacht nicht mit dem anscheinend so primitiven Fahrrad vertrug. So wurde es zumindest in den Großstädten aus dem Stadtbild und dem Bewußtsein verdrängt. Eine autolastige Verkehrsplanung war die Folge.

Dort, wo man das seltene Schild „Radweg“ überhaupt antrifft, sollte man es tunlichst ignorieren. Nicht nur, daß sie allgemein in einem katastrophalen Zustand sind und die Stadtreinigung bevorzugt ihre schockfarbenen Container darauf plaziert. Nein, vor allem auch auf den Radwegen macht sich alle naselang ein parkendes Auto breit.

Allein die Absicht, am Wochenende eine Tour in die perphere Grünzone des Molochs Berlin zu machen, erfordert ein Höchstmaß an Umsicht. Schienenersatzverkehr hängt als finstere Drohung über allen Strecken der Ostberliner S-Bahn. Während man sich Kinderwagen und Rollstuhlfahrern zwar knurrend, aber aus Gründen menschlichen Anstands erbarmt, ist man gegen den Radfahrer erbarmungslos. Also überlegt man sich am besten im voraus bereits mehrere Routen, um notfalls umdisponieren zu können. Am Wochenende auf allen Strecken gleichzeitig zu bauen, hat die reichsbahneigene S-Bahn bisher zwar Gott sei Dank noch nicht geschafft. Genausowenig, wie das flexible Eingehen auf einen höheren Bedarf an Fahrradabteilen überhaupt. Im Sommer, wenn die staub- und hitzegestreßten Großstädter in Massen mit dem Fahrrad in die seen- und waldreiche Umgebung flüchten, sehen sie sich in drei völlig unzureichende Extraabteile verbannt. Hunde, Traglasten und Fahrräder bilden an heißen Sommertagen ein geradezu grotesk anmutendes Durcheinander - da hat sich schon so manches Schutzblech hoffnungslos verbogen.

Super ist aber das Solidaritätsgefühl der Radler untereinander. Kleine Pannen werden unter Pedalkumpanen ohne viel Diskussion beseitigt. Der Einbau neuer oder schon gebrauchter Teile ist für die von einer sozialistischen Mangelwirtschaft geprägten DDR-Radler kein Problem. Selbst für Schlauchreifen ist von DDR-Hobbyrennfahrern eine Möglichkeit der Reparatur entwickelt worden. Wer keine Westverwandten hat, muß mit viel Phantasie und feinmechanischem Können die jahrelange Fehlplanung und mangelnde Produktionserweiterung der beiden Fahrradproduzenten MiFA und Diamant versuchen auszugleichen. Den einstmals bedeutenden Firmen ist es gelungen, in 40 Jahren DDR ständig schlechtere Räder zu bauen und das Ersatzteilsortiment zu verringern. Doch auch in der DDR kann man seit den letzten zwei bis drei Jahren das beobachten, was in der Bundesrepublik schon vor zehn Jahren einsetzte der Fahrradboom und mit ihm ein steigendes Bewußtsein der Radfahrer. Zu den Radsportlern und den „Ökos“ gesellt sich zunehmend auch Familie Biedermann und vor allem viele Jugendliche, die in ihrem Sommerurlaub mit dem Fahrrad durch die Landschaft touren. Ganze Heerscharen waren es zum Beispiel in der vergangenen Saison an der Ostseeküste, und sie werden mutiger. Man fährt auf der Landstraße auch schon mal gemütlich nebeneinander, ohne sich ob dieser „Frechheit“ von wütend hupenden Autofahrern stören zu lassen. Diese sprechen dann auch gerne nicht vom Fahrradtourismus, sondern vom Fahrradterrorismus.

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