: Muttis Hauptstadt oder unsere oder was?
■ Eine historisch-materialistische Analyse zur Lage der Linken unter besonderer Berücksichtigung der zukünftigen Perspektiven / Auf ins kapitalistische Chaos...
„Mein Gott, wie soll das bloß alles werden in der Zukunft, mit der Wiedervereinigung und so!“ stoß- und bremsseufzen unsere gegenwartsscheuen Muttis und Vatis einhellig. Wir dagegen, jung, links, verantwortungsvoll, experimentierfreudig und zukunftsaufgeschlossen, sind ja Luhmann sei Lob - mit dem gewissen Scharfblick für historische Diskontinuitäten ausgestattet. Und so können wir Mutti und Vati beruhigen: liegt für sie die Zukunft im Ungewissen, so ist für uns wenigstens die Sache glasklar es wird alles schlimm, schlimm, schlimm, und zwar nicht nur vielleicht, sondern bestimmt. Denn - das wissen wir noch von damals: Der Kapitalismus ist eine chaotische destruktive Produktionsweise, die ihre Widersprüche über den Markt regulieren muß. Das kann bekanntlich nicht gutgehen! Nichts als Chaos wird sein!
Für- und vorsorglich überlegen und flanieren wir Geschulten also hin und her, von West nach Ost, und basteln Szenarien, wie alles ineinanderschnackeln könnte. Doch vergeblich. Es klemmt, scheuert, hakt, quietscht und klabastert überall. Nichts will zusammenpassen: das kapitalistische Chaos ist immer schon gleich mit dabei. Denn merke wiederum: Das, was sich da naturwüchsig herstellt, das wird erst nachträglich als Ordnung ausgegeben. Seit Helmut Schmidt, erinnern Sie sich noch - der Kanzler von der SPD -, nennen die das Sachzwanglogik, und ihre Schadensbegrenzung heißt Politik. Tja, und nun?
Andererseits: Was haben wir uns gerade so schön gefreut gehabt! All dieses wunderbare Durcheinander bei Umstürzlers drüben, wie haben wir da doch gerne zugeschaut. Wahnsinnige Zeiten! Fast wie damals, 1917, bei der Großen Russischen Sozialistischen Oktoberrevolution. Ja, so muß das damals gewesen sein, dieser Elan, dieser Schwung!
Oder doch nicht? War die Revolution damals nicht eher gar eine Ordnungsmaßnahme im großrussischen Chaos? Trat nicht an die Stelle all dieses Durcheinanders der Plan? Hat nicht der Sozialismus die Welt neu geordnet, während um ihn herum das Kapital weiter wild wütete?
Ja, damals. Jetzt ist nämlich alles wieder anders. Jetzt, wo der Sozialismus das Chaos hinterlassen hat, wer soll da für Ordnung sorgen? Richtig, bleibt ja nur wieder der Kapitalismus. Wenn schon Funktionstausch, dann bitte für beide!
Jetzt sind Sie verwirrt und können sich immer noch nicht vorstellen, wie sich deutsch-deutsch eindeutscht? Und das, wo jeder Klein- und Großgeldbesitzer davon sowieso noch mal seine eigenen Vorstellungen hat? Ja dann hilft nur noch ein Supermodell, auf das sich alle - in aller Differenz, versteht sich - verständigen können: ein Olympia 2000 oder eine Hauptstadt Berlin als strategisch-emotionaler Integrationspunkt quasi. Obwohl: Leider wissen wir ja, daß neuere Gesellschaften ihre Chaos-Verwaltung ( Politik) dort ansiedeln, wo sie ihrer Bedeutung nach hingehört - in die Provinz nämlich. Nicht New York, sondern Washington, nicht Sydney, sondern - wie heißt doch gleich die Hauptstadt von Australien? - nicht Rio, sondern Brasilia, nicht Frankfurt, sondern - Bonn.
Ach, ach, ach - kompliziert verläuft die Kapitalen -Krankheit. Und das Vergnügen, jene anarchischen Freiräume, die das deutsch-deutsche Chaos so anregend wie üppig anrichtet und serviert, wenigstens für ein paar Monate zu genießen, verpatzen wir uns gründlich durch unsere konstruktiven Stellvertretungssorgen.
Dormagen/Riedle
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