Das Fallen der Mauer als Fototermin

■ Am Montag abend begann der Mauerabriß zwischen Brandenburger Tor und Reichstag / Routinierter Volksjubel / Westberliner Polizei hat Massen fest im Griff / GrePos sind überfordert

Es war eine Nacht für Kamera-Augen - denn die bleiben bekanntlich trocken. Vor Freude weinen? Das mußte beileibe niemand mehr in dieser historischen Nacht, als DDR -Grenztruppen die Mauer zwischen Brandenburger Tor und Reichstag einrissen. Das Wechseln der Grenze zwischen Ost und West-Berlin ist Alltag geworden - auch wenn Rentner dafür durch Löcher in der Mauer steigen müssen.

Heute heißt es zwischen dem Durcheinander Tausender Schaulustiger trocken: „Ey, geh mal aus der Linse.“ So zum Beispiel die 34jährige Martina Baykam, Westberlinerin. Ihr Freund Dieter Korschelt (42) soll alleine den Vordergrund des späteren Papierbildes bestreiten, auf dem im Hintergrund Militärbagger Mauerteile umkippen. Sie waren am 9. November dabei, waren angeblich die ersten Grenzüberschreiter am Potsdamer Platz gewesen, waren Silvester am Brandenburger Tor und heute hier, erzählt Martina Baykam voller Stolz. Deutsch-deutsche Vereinigung - eine Aneinanderreihung von Fototerminen.

Nur manchmal gibt es Wichtigeres als das „Klick“. Dann nämlich, wenn beim Abriß den grünolivenen Militärbaggern Mauerteile aus dem Griff der Schaufel rutschen, drei Meter herunterfallen und auf dem Asphalt zerspringen. Da lassen Familienväter ihre Fotoapparate aus den Händen fallen, voller Vertrauen, daß der Riemen die teure Autofocus-Technik spätestens auf Höhe des Bierbauches auffangen wird. Dann stürzen sie los, werfen sich auf die zersplitterten Mauerteile - wie Jäger auf verwundete Tiere. Alles im toten Winkel des Baggerführers. Dschungel, Dienstag nacht, Berlin.

Dabei kommt es auf Ost-Seite immer wieder zu tumultartigen Auseinandersetzungen mit der DDR-Noch-Staatsmacht. Ein GrePo will einen älteren Mann von den heruntergefallenen Mauerteilen wegziehen. Der Mann aus Treptow, Manfred Thierbach (48), gibt dann auch auf. Hätte er ein Teil des toten Betonkadavers erbeutet, hätte er es seiner 16jährigen Tochter geschenkt. Kein Geschenk also und auch kein Foto von dieser Szene, als Papi beinah Held gewesen wäre. Auf der West-Seite der Mauer kommt es übrigens nicht zu diesen Szenen. Die Westberliner Polizei hat die Demo-bewährten Absperrgitter aufgestellt. Und in der ersten Reihe stützen sich Kinder wie Eltern, Singles wie Rentnerehepaare mit ihren Armen auf die weiß-roten Gitter. Würde man nicht wissen, daß sie gerade den Abriß der Mauer beobachten, man würde denken, sie sitzen in ihrer Stammkneipe an der Theke.

Die GrePos hinter der Mauer sind derweil überfordert. Ihre Lastwagen werden immer wieder erstürmt. Aus dem Führerhäuschen fotografiert man deutsche Geschichte. Das Dach wird vom Gewicht der Neugierigen eingebeult. Auf der Plane lutscht man Flachmänner leer. Mittvierziger krabbeln unter die Allradlaster, um unter ihnen hinauszufotografieren - aus der ersten Reihe sozusagen. Manchmal versperren GrePo -Beine den Sucher-Blick. Mit einem 90-Grad-Blick kann man sich versichern, daß auf dem Brandenburger Tor heute niemand auf der kupfergrünen Quadriga reitet. Hat der Silvester-Tote den Übermut Besoffener gebremst?

Im Gedränge legt sich eine Frau in schwarzem Ledermantel mit einem Fahnenträger an, will ihm an den schwarz-rot -gelben Stoff. „Die Fahne laß‘ ich mir nicht zerreißen“, antwortet der Mittvierziger in seinem grünen Parka aggressiv. Einsam irrt er durch die Menge, schwenkt das nationale Symbol über den Menschen. Fotoapparate klicken. Solange er nicht von anderen belästigt wird, lächelt er, glänzen seine Augen, ist er ergriffen. Um sich guckt er nur, wenn er seinen kleinen Sohn sucht, der immer wieder droht in der Menge verloren zu gehen - ansonsten bleibt sein Blick immer nur oben an seiner Fahne hängen.

Der Junge ist müde und will endlich gehen: „Es ist schon nach halbzwölf.“ Und dann gehen sie entlang der Mauer nach Hause. Der Kleine hat seine Hände zufrieden in seine Hosentaschen gesteckt, sein Vater die Deutschland-Fahne geschultert. Der Junge fragt dann noch: „Papi, was wollte denn die Frau von dir?“ Doch in der Entfernung hört man nicht mehr, was er antwortet. Im orangenen Licht werden sie zur Silhouette. Am Horizont sind sie dann niemanden mehr ein Foto wert.

Dirk Wildt