Ich kann tun, was ich will

■ Der in Paris lebende usamerikanische Dokumentarfilmer Robert Kramer sprach mit Ulf Erdmann Ziegler

Nachdem ich „Route One“ gesehen habe, schien mir, in den nächsten zwanzig Jahren müßte ich wohl nicht mehr in die USA fahren. In Ost-Berlin sprachen Sie über den Niedergang Amerikas. Finden Sie Amerika - ekelhaft?

Nein, das Wort würde ich gar nicht gebrauchen. Ich sehe Amerika gefangen zwischen einer alten Weise, sich selbst zu beschreiben - einer historischen - und einer neuen Realität, über die zu sprechen die Leute sich sehr schwer tun. Sie sitzen da in einer gefährlichen Falle. Es ist nämlich die Falle, die allerlei politischen Extremismus hervorbringt, besonders rechten. Unterhalb dieser gegenwärtigen Realität liegen die Auswirkungen des Versagens. Die haben mit der Desintegration zu tun; und was sie in Leuten anrichtet...

Desintegration. Welcher Art?

Hauptsächlich die wirtschaftliche Desintegration, die Abkopplung der Leute vom Wohlstand der USA, des Landes von der Welt. Immer mehr Leute sind arbeitslos, immer mehr Menschen leben am Rand der Gesellschaft, besonders Schwarze. Das bringt ein ständiges Anwachsen des Ressentiments mit sich und erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß Gewalt angewandt wird. Also: Ekel, ganz bestimmt nicht.

Die Frage ist, ob zwanzig Jahre gut geschätzt sind. Diese Probleme sind so dringend, es geht um das Leben von Leuten. Und der nationale Dialog berührt diese Probleme überhaupt nicht. Der wird so geführt, als wenn die USA immer noch die alles überragende Weltmacht wären - und findet in der Atmosphäre allgemeiner Selbstzufriedenheit statt. Es besteht die Möglichkeit, daß dies alles viel explosiver ist, als sich irgend jemand jetzt vorstellt. Sozial exlosiv.

So wie Tracy Chapman singt: „Talking 'bout a revolution/ it sounds like a whisper“?

Die Sache ist, daß „Revolution“ nichts mehr bedeutet. Also: „Talking 'bout a revolution/ sounds old-fashioned“. Worin besteht die Form dieser neuen Entwicklung? Es gibt im Moment keine Sprache dafür, wie die Veränderung auszusehen hat.

Eine Veränderung zum Guten.

Ja. Sagen wir die Anpassung ans 21. Jahrhundert.

Vor welcher Explosion fürchten Sie sich?

Was mir wirklich Sorgen macht ist Rassenkrieg. Daß die schwarze Wut - wegen des Ausschlusses von der amerikanischen Gesellschaft - an den Punkt kommt, wo es Ausbrüche gänzlich unvernünftiger und unkontrollierter Gewalt gibt.

Wo nun offenbar wird, daß der Kommunismus wirklich gänzlich versagt hat, die Probleme arbeitender und konsumierender Menschen zu lösen - haben Sie das Gefühl, daß die USA zumindest ideologisch richtig lagen, vielleicht sogar in Vietnam?

Nein. - Ich habe das Gefühl, daß wir in eine wirklich merkwürdige Ironie verstrickt sind. Dieses kapitalistische System und die sozialistische Idee sind im wesentlichen Ideen des 19. Jahrhunderts, die einen gemeinsamen Boden haben, der viel größer ist, als wir jemals denken durften. Sie haben beide den gleichen Menschen hervorgebracht. Das eigentliche Bild ist das Fließband. Das Fließband, wie es in „Route One“ immer wieder auftaucht. Die Idee des 19. Jahrhunderts ist, daß Leute diesen Maschinen zu dienen haben, im Osten und im Westen.

Das Fließband in „Route One“. Sie waren doch kaum in Fabriken?

Doch, wo der Fisch in Dosen verpackt wird; oder wo das „Monopoly-Spiel“ produziert wird; oder wo die Armee ausgebildet wird; oder wo die Autos die Straße entlang fahren. Das sieht überraschend ähnlich aus. Die Werte, die die USA weltweit als triumphal ausbreiten konnten, mögen triumphal sein; sie sind aber am Ende ihrer Straße. So kann man eigentlich nicht weitermachen. Und das Problem ist ganz genau dies, daß wir zur Zeit keine Alternativen haben.

Wie sieht es für Sie aus: Sind Sie nach Paris gegangen, einfach um nicht mehr in den USA zu sein, oder suchten sie nach einer persönlichen oder einer politischen Alternative?

Ich denke, ich bin gegangen, weil eine sehr aufregende Zeit in den USA von den frühen Sechzigern bis in die Mitt -Siebziger zuende gegangen war. Jeder, der mit diesem Experiment zu tun hatte, ob er politisch aktiv war oder kulturell oder sonstwie, mußte darüber nachdenken, wie man sein Leben anders leben kann. Zum Beispiel: viele Leute haben angefangen zu unterrichten; viele haben sich gesagt, man muß sich dem herrschenden System anpassen, also in Hollywood arbeiten oder für das Fernsehen.

Rückwärts gesehen bin ich wohl weggegangen, weil es dann leichter war, mit dem Denken anzufangen. Es ist schwer in den USA zu denken; außerhalb des nationalen Dialogs zu denken.

Stimmt es, daß Sie zehn Jahre vor dem Film nicht mehr dort waren?

Nein. Es ist so, daß ich etwa sieben Jahre nicht in den USA gewesen war. Gar nicht. Aber meine Familie ist jeden Sommer dorthin zurückgefahren.

Und Sie nicht?

Ich nicht.

Und dann sind Sie für diesen Film erst zurück?

Nein. Ich war ein paarmal dort gewesen. Dann habe ich den Film gemacht. Nur, als ich so richtig merkte, daß ich sieben Jahre nicht dort gewesen war, wurde mir klar, daß die Entscheidung, ins Ausland zu gehen, ein bißchen komplizierter war als ich gedacht hatte. Aber was meinen politischen Hintergrund angeht, habe ich keinen Grund, mich als exiliert anzusehen. Es gibt Leute, die wirklich genug Gründe haben, exiliert zu sein. Und dazu gehöre ich sicher nicht. Leute versuchen immer, mich in diese Rolle zu drängen. Ich bin einfach ein Künstler, der außerhalb seines Landes arbeitet.

Vor dem Publikum machten Sie so eine Randbemerkung, die Sie aber irgendwie dann unterdrückten, daß es doch schade sei, daß Leute Bilder bräuchten, um zu wissen, wer sie wären und daß sie existierten. Auf welcher Ebene denken Sie, daß man das so sagen kann: für das Familienalbum; für das Kleinkind, das vor dem Spiegel steht?

Ich bin etwas durcheinander, was das angeht. Paul (McIsaac) sagte nach dieser Diskussion: Dieses Bedürfnis, sich zu sehen, sei die negative Seite der Tatsache, daß Leute jetzt wüßten, daß sie das Recht hätten, sich selbst zu sehen. Ein Privileg, an dem jeder teilhaben könne, um in diesem kollektiven Bewußtsein aller Fotografien, aller Filme zu existieren. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Vielleicht ist es altmodisch zu denken, daß man diese Bilder nicht brauchen sollte, um seine Existenz zu kennen. Dieser Wunsch der Leute, ins Bild zu treten, ist aber oft der Reflex auf ihre Isolation und Einsamkeit.

Und Sie: bleiben Sie lieber außerhalb des Rahmens? Hassen Sie die Kamera ein bißchen?

Ich habe dazu schon eine ambivalente Beziehung. Es ist eher wie Striptease. Natürlich, weil ich Kameramann war, kam ich nie ins Bild. Aber das ist die Frage danach, wieviel du von dir zeigst. Das ist dann eine andere Art Perversion.

Was ist daran pervers?

(lächelt süffisant) Ich glaube, es kommt aus einem Wunsch, alles zu zeigen.

Ja.

Auf einer bestimmten Ebene kommt das von irgendeinem Exhibitionismus her. Die Ebene ist ein bißchen pervers. Dann fängt man an, damit zu spielen. Ein bißchen dies, eine kleine Berührung, ein bißchen Hand, ein bißchen von der Ecke vom Hut, ein paar persönliche Sachen auf dem Tisch. Das ist pervers.

So zeigt Ihre Kamera nur die Spitze des Eisbergs von einem ganzen neurotischen System?

Nnn...ein. Ich denke, das formale Problem ist - besonders in „Route One“ - daß ich von den Leuten erwartet haben, daß sie die Kamera behandeln wie 'jemandes Standpunkt‘. Nicht in der traditionellen Art der 'Kamera-in-der-ersten-Person‘, die irgendwie auf meiner Schulter herumhoppelt. Also die Vorstellung durchzusetzen, daß es hauptsächlich Robert ist wer auch immer diese Figur hinter der Kamera ist - der alles sieht; um das wirksam werden zu lassen, durfte nicht zuviel verraten werden über die Person hinter der Kamera - im Zusammenhang mit dem Film.

Ist das nicht die Rolle jedes guten Portraitfotografen?

Gewiß. Absolut. Und es gibt definitiv Zusammenhänge mit... Etwa mit den Fotografien Sanders. Die Portraitarbeit an einer Kultur. Es gibt natürlich auch Traditionen dieser Art in der amerikanischen Fotografie. Robert Franks Frühwerk ist ein weiteres klassisches Beispiel eines Standpunkts, der in einer Serie von Standfotos übermittelt wird. Wie auch immer das Buch heißt...

„The Americans“.

„The Americans“!

Zuerst veröffentlicht in Paris. Robert Franks Fotografie ist so eine Straßenfotografie, bei der man den Eindruck hat, rechts und links der Straße hätten die Szenen in kleinen Pappkartons darauf gewartet, daß Frank eintritt. Sie aber werden von Orten geradezu absorbiert.

Ich liebe Orte. Orte sind vor den Leuten da. Leute wachsen aus den Orten. Als ich ein bißchen auf Erkundungstour war ich bin die Straße (Route 1) in der anderen Richtung hochgefahren, von Florida bis Maine - habe ich nur nach Orten gesucht. Ich habe keinen Versuch gemacht, Leute zu treffen. Warum tun die Leute alle etwas im Film - mit ihren Händen? Es ist nunmal so, daß Orte eine enorme Fähigkeit besitzen, die Leute zu reflektieren, die an ihnen wohnen.

Wenn ich irgendwo zu filmen beginne, fange ich fast immer mit dem Ort selbst an. Wir nennen das „fischen gehen“. Das heißt: früh aufstehen, rausgehen, nur zwei oder drei von uns, mit der Kamera und der Nagra. Und dann tauchen wir in die Dinge ein, die mich an einem Ort faszinieren. Erst später frage ich mich, wer die Leute sind, die dort leben.

Aber die Verbindung zu Robert (Frank) läuft ganz anders. Denn was Ende der 50er Jahre passierte, mit den beat poets und action painting, Pollock, sowie die Verschmelzung von Jazz und Gedichten, die Untergrundfilme wie „Shadows“ oder der echte Untergrund, den Nekes vertritt... Da haben Leute gesagt: Was wir uns so ansehen müssen, diese ganze offiziöse Kultur, das ist alles bull shit. Nicht das Leben, das ich lebe. Das ist der Anfang einer großen amerikanischen Zeit der Erforschung. Das war die Explosion. Das passierte überall. Das passiert in der Musik mit Cage. Robert (Franks) Art, die Welt aufzunehmen, artikuliert diese Differenz zur offiziösen Kultur. Nun ist seine Differenz eine andere als meine.

Pollock hat gesagt, es gab vielleicht fünfhundert Jahre klassische Malerei, aber was ich fühle, muß mit den Bildern irgendwie getanzt werden. Das war ein radikaler Bruch mit der Vorstellung, daß es Regeln gäbe, wie etwas auszusehen oder zu klingen habe. Als ich deren Arbeit gesehen habe ich war sehr jung - war das eine Offenbarung. Das hat mein Leben verändert. Davor kannte ich, zum Beispiel, Hollywood, und ein bißchen Europa, und das, was jetzt klassische Moderne ist. Plötzlich sagten die Leute: Wir fangen neu an. Das Blatt ist weiß. Ich kann alles tun, was ich will. Da ist die Verbindung.

Aber so werden Sie sich jetzt nicht mehr fühlen.

Doch, genauso fühle ich das jetzt. Jedesmal, wenn ich anfange, habe ich das Gefühl, niemals vorher irgendetwas getan zu haben.

Werden Sie in Paris bleiben?

Ja, ich werde in Paris bleiben.

Für den Rest Ihres Lebens?

Das verhüte Gott!

Sind Sie, bei dem was Sie bisher getan haben, regelrecht arm geblieben, oder sind sie auf verborgene Weise auch kommerziell erfolgreich?

Die Filme sind kostendeckend. Sie werden schon ziemlich viel gezeigt, aber sie sind nicht kommerziell erfolgreich. Ich bin ein Filmemacher, der ganz davon lebt, daß er Filme macht. Die frühen Filme werden soviel gezeigt wie die letzten. Fast alle Filme waren im Fernsehen, fast überall auf der Welt.

So können Sie wirklich angemessen in der Mittelschicht leben.

Ganz und gar. Ich lebe nur nicht in der Pracht des Filmregisseurs. Aber wir machen uns keine Sorgen, daß wir die Rechnungen am Ende des Monats nicht zahlen könnten. Nur, ich muß eben arbeiten. Aber das ist in Ordnung. Auf französisch sagt man tacheron; jemand, der Aufgaben (tasks) wahrnimmt. Es ist ein anders Image als das des schicken Künstlers. Arbeitskünstler. Das war bisher gut für mich. Anstatt daß ich anderthalb Jahre herumsitze und über den nächsten Film nachdenke, gehe ich gleich an die Arbeit.

Dann bekommen Sie nie Depressionen?

Ich werde nicht depressiv. Und ich lerne fast nur, indem ich etwas tue. Ich glaube nicht, daß ich sehr gut denken kann: im Stuhl sitzen und einfach denken. Aber ich lebe ganz auf, wenn ich filme oder schneide.

Sie sind in New York aufgewachsen?

Ja, ich bin aus Manhattan. Da waren all die Einwanderer aus Europa. So hatte ich einen guten kulturellen Hintergrund. Eine typische amerikanische Geschichte. Meine Eltern sind, wenn auch beide durch natürliche Ursachen, gestorben, es gibt kein Haus mehr. Ich wurde aus politischen Gründen enterbt.

Haben Ihre Eltern Ihre Arbeit nicht akzeptiert?

Mein Vater ist zu früh gestorben. Meine Mutter tat sich schwer mit meiner Arbeit. Sie machte sich viel daraus, daß meine Arbeit Anerkennung fand, aber sie dachte immer, irgendwie wäre das schmutzig.

Vielen Dank.