: Eine Frage der Logik
■ Der schönste Film des Wettbewerbs lief außer Konkurrenz: Eric Rohmers „Frühlingserzählung“
Jeanne wohnt bei ihrem Freund Mathieu. Mathieu verreist für ein paar Tage, deshalb geht Jeanne zurück in ihre eigene Wohnung. Alleine wohnt sie lieber bei sich. Zu Hause trifft sie den Verlobten ihrer Kusine, der sie die Wohnung für ein paar Tage geliehen hat. Die beiden wollen noch übers Wochenende bleiben. Jeanne will nicht stören, sie holt nur schnell ein paar Sachen, entschuldigt sich und geht.
Auf einer Party lernt sie Natasha kennen. Natasha wohnt mit ihrem Vater Igor zusammen. Aber Igor wohnt meistens bei seiner Freundin Eve, also zieht Jeanne vorübergehend zu Natasha. Am nächsten Morgen kommt der Vater überraschend nach Hause. Er trifft auf Jeanne, will nicht stören, holt schnell ein paar Sachen, entschuldigt sich und geht.
Jeanne und Natasha sitzen in der Küche. Natasha erzählt von ihrem Vater, der 40 Jahre alt ist und daß sie Eve, dessen 20jährige Freundin, nicht leiden kann. Dabei ist ihr eigener Freund fast so alt wie ihr Vater. „Schockiert?“, fragt Natasha. „Geschmackssache“, sagt Jeanne.
Eine Frage der Ordnung: die Küche ist von vier quadratischen Holzpfeilern begrenzt, die Einrichtung stammt von einem verrückten Architekten, der mit den Pfeilern die Küche als Ort markieren wollte. „Ich mag keine räumlichen Beschränkungen“, sagt Jeanne. Dabei hat in ihrem Leben längst alles seinen Platz.
Sie erzählt, sie sei Philosophielehrerin und ihr Freund Mathematiker. Noch habe jeder seine Wohnung für sich, aber bald wollten sie in die Provinz ziehen und heiraten. Alles in Ordnung.
Aber etwas ist durcheinander geraten. Am Anfang war Jeanne in Mathieus Wohnung gekommen, hatte dort die Unordnung gesehen, die Kleider aufgehoben, sie angeschaut wie fremde Gegenstände, und sie wieder hingelegt. Eine kleine Unschlüssigkeit, weiter nichts. Nun hat sie zwei Schlüssel zu zwei Wohnungen und sitzt in einer dritten Wohnung. Die logische Folge ihrer Unschlüssigkeit.
Natasha und Jeanne (Florence Darel und Anne Teyssedre) ein ungleiches Paar. Natasha ist Pianistin, Jeanne Philosophielehrerin. Natasha träumt gern, Jeanne denkt gern. Natasha hat langes, weiches, lockiges Haar, Jeanne trägt eine kurze Pagenfrisur. Natasha ist ein Mädchen, Jeanne eine Frau: die eine wohnt im Haus ihres Vaters, die andere in der Wohnung ihres zukünftigen Gatten. Und doch sind beide gleich alt, schön und selbstbewußt.
Sie sprechen über Banalitäten und über das „reine Denken“, sie sagen kluge Sätze, aber sie zwitschern sie.
Eve ist anders: eine Journalistin, praktisch und bodenständig. Wenn sie spricht, diskutiert sie, instiert, führt Wortgefechte. Schön ist sie auch.
Eine Frage der Logik: Natasha will Jeanne mit ihrem Vater zusammenbringen, sie sagt, Jeanne wäre genau die richtige Frau für ihn. Also sorgt Natasha dafür, daß Jeanne und Igor am Wochenende im Landhaus unversehens alleine sind. Vielleicht war es auch Zufall und keine Intrige. Aber es sieht aus wie sorgfältig geplant: Natasha zettelt einen Streit mit Eve an, sie glaubt, daß Eve ihre Halskette, ein wertvolles Familienerbstück, gestohlen hat. Eve reist wütend ab. Natashas Freund - auch er ist Journalist - taucht überraschend auf, die beiden gehen spazieren und kehren nicht zurück.
Am Abend stellt Igor Jeanne drei Fragen. Ob er sich neben sie setzen darf. Ob er ihre Hand halten darf. Ob er sie küssen darf. Sie sagt ja, dreimal ja und läßt ihn gewähren. Jeanne ist ganz ruhig, Igor schüchtern und zärtlich. Ein schönes Paar. Draußen blühen die Obstbäume. Das Kaminfeuer knistert, das Sofa, auf dem sie sitzen, ist dezent mit blauen Blumen gemustert, Jeanne trägt eine schlichte blaue Halskette. Es ist wie im Märchen. „Conte de Printemps“, das heißt nicht nur Frühlingserzählung, sondern auch -märchen.
Es war einmal. Jeanne steht auf, setzt sich Igor gegenüber und sagt: „Ich habe dir drei Wünsche erfüllt, das ist eine Menge“. Es sei nicht Liebe, sondern Logik. „Die Logik der Zahl drei.“ Aber vielleicht ist das ja dasselbe - sie sagt es freundlich, fast zärtlich. Keine Affaire, kein Bruch.
Frühlingserzählung ist Rohmers logischster Film, der erste eines neuen Zyklus‘ über die Jahreszeiten. Die Beziehungen der Figuren sind präzis konstruiert: drei Paare, drei Frauen, vier Wohnungen. Ein Theaterstück: Bis auf die wenigen Szenen im blühenden Garten spielen alle in Innenräumen. Ein Theatertext: Die Dialoge sind diesmal nicht improvisiert, sondern raffiniert ausgesponnen.
Ein abstraktes Theorem, und doch ergibt sich alles wie von selbst, wie immer bei Rohmer. Vielleicht ist es Zufall. Jede noch so kleine Geste, jeder Blick, die Stimmen der Frauen, die Art, wie Jeanne den Pullover anzieht, wie Natasha vorm Klavierspiel die Finger biegt - all das ist banal und zugleich vollendet schön.
Die Interieurs sind kunstvoll arrangiert und doch alltägliche Orte: Wohnungen, wie jeder sie kennt. Natasha spielt Schumann - die Klavierspielerin ist nicht gedoubelt, Florence Darel kann wirklich Klavier spielen, die Szene ist echt. Jeanne ist Expertin für Plato, Spinoza und Transzendentalphilosophie - Rohmer hat sich das nicht ausgedacht, Anne Teyssedre hat tatächlich Philosophie an der Sorbonne studiert. Jeanne und Natasha sind identisch mit Anne und Florence, man konnte es sehen, nach dem Film bei der Pressekonferenz.
Rohmer hat sie nicht er- sondern gefunden. Erfunden hat er den Film, der sie zeigt, wie sie sind.
Rohmer hat Jeanne, Natasha und Eve mit Blumen umgeben, Blumen auf ihren Kleidern, auf der Bluse, den Tapetenmustern, dem Sofa, auf den alten Holztüren und dem Plakat an der Wand. Auf dem Küchentisch liegt Obst und frisches Gemüse, selbst das Geschirr ist mit Blumen verziert. Eine altmodisch rührende Hommage an den Frühling, und doch drängt sich das Spiel der Farben und Muster nie auf. Sie sind bloß einfach da.
Ich weiß nicht, wie er das macht, ich weiß nur, es hat mit Liebe zu tun. Florence Darel erzählt, sie habe noch nie so viel Freiheit beim Spiel gehabt wie bei den Dreharbeiten mit Rohmer. Die Freiheit habe ihr Angst gemacht. Nie zoomt die Kamera, im Gegenteil, sie fährt unmerklich zurück, entfernt sich, um genauer hinsehen zu können.
Am Ende ist alles in Ordnung. Die Halskette ist gefunden, Jeanne kehrt in Mathieus Wohnung zurück, Natasha hat sich nach einem Streit wieder mit William versöhnt. Vielleicht trennt sich Igor von Eve, vielleicht auch nicht. Draußen ist Frühling, die Gefühle sind erwacht. Eine Woche ist vergangen. Die Kusine hat frische Blumen hingestellt. Sie hat sie im Cellophanpapier gelassen. Es könnte ja sein, daß Jeanne sie mitnehmen will, in eine andere Wohnung. Eine kleine Unschlüssigkeit, weiter nichts.
Christiane Peitz
Eric Rohmer: Conte de Printemps, mit Florence Darel, Anne Teyssedre, Hugues Quester, Frankreich 1990, 112 Min.
21.2. Kosmos 19.30, Urania 22.30
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