„Wir vergessen nicht, wir vergeben nicht!“

■ Vor 25 Jahren wurde Malcom X, Martin Luther Kings politischer Widersacher, erschossen

Theodor T.Heinze

Am 21. Februar 1965 eröffnen drei Männer im New Yorker Audubon Ballroom vor 400 Zuschauern das Feuer auf Malcolm X. Die Attentäter bestreiten, im Auftrag der Nation of Islam gemordet zu haben, aus der Malcolm X elf Monate zuvor wegen politischer Differenzen ausgetreten war. Wieder einmal bleibt einem Bürgerrechler der erhoffte politische Durchbruch versagt. 18 Monate nach der Erschießung des Südstaaten-Vertreters der Bürgerrechtsorganisationen NAACP, Medgar Evers, aus Jackson, verliert der radikale Flügel der schwarzen Bewegung mit Malcolm X seine Leitfigur. Drei Jahre später wird Martin Luther King erschossen. Seit 1953 war Bruder Malcolm für die Nation of Islam quer durch die städtischen Ghettos des Nordens und Westens der USA gereist und hatte fast 50 Moscheen eröffnet. Seine wütenden Predigten, seine Abendseminare und die 500.000 verkauften Exemplare der Wochenzeitung 'Muhammad Speaks‘ warben über 100.000 Mitglieder in 27 US-Staaten. Als erster Sprecher der Black Muslims, wie sich die Anhäger der Nation of Islam nannten, war Malcolm X zum großen Widersacher Martin Luther Kings avanciert.

Während Pfarrer King dazu aufforderte, „das Kreuz zu tragen“, warb Malcolm für die Abkehr der Massen vom Christentum: „Wenn es hier einen Gott gibt, dann für Weiße. Warum behandelt dieser Gott uns Schwarze schlechter? Nicht einmal in der Bibel gibt es solche Verbrechen, wie sie an uns verübt werden.“ Im Amerika der fünfziger Jahre waren die einzig legitimen Orte schwarzer Identitätsfindung die Kirchen. Hier konnten die Gemeindemitglieder wenigstens stundenweise alltäglichen Diskriminierungen entkommen und das seltene Gefühl von schwarzer Gleichberechtigung und Selbstachtung kultivieren: Black Pride. Aber die Kirchen ventilierten auch die Wut über das Unrecht: sie propagierten Versöhnung mit den Weißen, obwohl die Lebensbedingungen von Schwarzen und Weißen sich „wie Himmel und Hölle“ (so eine Parole der Nation of Islam) unterscheiden.

Der American Dream

-ein Alptraum

In den urbanen Ghettos der Industriestädte entwickelte sich der schwarze Widerstand anders als im Cotton Belt. Dort waren öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Bibliotheken, Restaurants, Toiletten und Schwimmbäder bis 1963 nach Hautfarben getrennt. Mit Sit-ins, Busstreiks und Boykotten baute Martin Luther King im Süden die kirchliche Bewegung zu einer Kraft mit politischen Ansprüchen aus. Dem American Dream aber, dessen Verwirklichung für alle Rassen King forderte, mißtraute Malcolm X: Er sei bloß der „Alptraum“ einer integrationistischen Wende zur stillen, das heißt wirtschaftlichen und kulturellen Diskriminierung. Im Norden durften Schwarze schon auf allen Parkbänken sitzen, doch ihre Familieneinkommen betrugen nur 51 Prozent des Durchschnitts, Bildungs- und Karrierechancen gab es nicht. Die astronomischen Kreditzinsen und Lebensmittelpreise, die überhöhten Mieten bei weißen Hauseigentümern erzeugten eine ständige ethnische Spannung in den Wohnvierteln.

Um die Insel der Armut im reichen Amerika zu verlassen, so Malcolm X, sollten Schwarze die ökonomische Macht ergreifen. Das erfordere zuerst eine politische Revolution. Den Bürgerrechtsmarschierern erklärte er: „Ihr werdet mit den Weißen zusammensitzen dürfen - auf dem Klo. Die Masse der Schwarzen aber will eine eigene Gesellschaft und ein eigenes Territorium.“

Im Norden gab es damals schwere Unruhen: Läden wurden geplündert, die Polizei und schwarze Jugendliche lieferten sich Straßenschlachten. Prediger Malcolm verspottete den Christen King dafür, „zusammen mit den Unterdrückern Gospelsongs anzustimmen“, anstatt die Selbstverteidigung durch bewaffnete schwarze Bürgerwehren zu beginnen. Integration hielt er für gefährlich. „Worin soll die Identität der Afro-Amerikaner dann noch bestehen?“ Auch gemischtrassige Ehen würden die „Identität der Weißen letztlich ebenso wie die der Schwarzen zerstören“. Während Gandhi-Anhänger King sich bei der bürgerkriegsartigen Situation im Süden bemühte, eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhindern und die Voraussetzungen für einen Dialog zu schaffen, hielt Malcolm X Diskussionen mit Politikern für bloße „Ideologie zum Nutzen der weißen Teufel“, die nichts an der strukturellen Gewalt gegen die schwarze Bevölkerung ändere. Bei Talkshows störte er sich an den „Vorzeigegegnern und Doktoren, die so verdammt integriert sind und so nett, mich beim Vornamen zu nennen. Kings Taktik, mit der er erst die liberale Presse, dann die Demokratische Partei für sich gewann, konnte Malcolm X in New York nicht verstehen: Dort wurde nicht so schnell geschossen wie in Georgia. Während Malcolm in Harlem Redefreiheit genoß, wanderte King schon wegen eines nicht umgeschriebenen Führerscheins in Atlanta für sechs Monate ins Gefängnis.

Keine schrittweise Emanzipation

Im Gegensatz zu King, dem Christen aus dem Süden, dem Doktor der Philosophie und prototypischen Aufsteiger aus der dünnen schwarzen Mittelschicht, konnte sich Malcolm X den Weg der schrittweisen Emanzipation nicht vorstellen. Ein Junge aus dem Ghetto, wie er, hatte nur die Aussicht, ewig arm zu bleiben oder ein gehetztes Dasein als Entertainer oder Krimineller zu versuchen. Sein Vater, der Baptistenprediger Earl Little, war bereits mit den schwarzen Nationalisten aus Marcus Garveys „Back to Africa„-Kampagne marschiert. Der Ku Klux Klan bedrohte die Familie und zündete das Haus an. Als Malcolm sechs Jahre alt war, wurde der Vater erschlagen. Die Mutter verschwand in der Psychiatrie, die Kinder kamen ins Heim.

Mit 14 Jahren ging Malcolm nach Boston, dann nach New York, in die schwarze Unterwelt. Er verkaufte den Jazzmusikern der Ostküste Drogen, er vermittelte Kunden an Prostituierte und machte Karriere als Nummernsammler der illegalen Lotterie. Mit 20 war er ein reicher Mann mit weißen Freundinnen, seine Waffe trug er „so selbstverständlich wie die Krawatte“. Er kokste und war Anführer einer Einbrecherbande. Zu zehn Jahren Haft verurteilt, lernte er im Gefängnis lesen und schreiben, beschäftigte sich mit Geschichte, Archäologie, Philosophie, Latein und konvertierte noch vor seiner vorzeitigen Entlassung zur Nation of Islam.

Diese Biographie brachte ihm gewiß mehr Sympathien ein als King der Nobelpreis. Denn Malcolm X beherrschte den Slang und das wendige, gerissene, urbane Denken der Ostküste. Er kannte das schwarze Bewußtsein in der Bronx und die Schicksale der Korea- und Vietnamveteranen aus der Nähe. Miese Jobs, Drogen, Verbrechen und Gefängnis, er hatte das alles selbst durchgemacht und die Hoffnung auf Gleichheit und Wohlstand für alle 22 Millionen Afro-Amerikaner schien ihm trügerisch. Als John F. Kennedy 1963 ermordet wurde, kommentierte er: „Das ist Gottes Urteil über das weiße Amerika.“ Daraufhin suspendierte ihn Sektenchef Elijah Muhammad vom Dienst. Malcolm X ging fortan seine eigenen Wege. Nach einer Mekka-Reise suchte er, anders als die strikt separatistische Nation of Islam, die Kooperation mit schwarzen Verbänden. Fünf Monate lang bereiste er Afrika, um mit den Präsidenten der jungen, dekolonisierten Staaten zu reden und mit ihnen eine UN-Initiative gegen den Rassismus in den USA auf die Beine zu stellen.

Der großgewachsene, elegant gekleidete Black Muslim mit Hornbrille und Aktenkoffer fand die typischen Schwarzen vom Land, die mit Overalls und Mistgabeln genauso aussähen wie ihre Südstaaten-Bosse, lächerlich: „Diese verschwitzten Schwarzen, diese Onkel Toms aus den Kleinstädten“, „die auf Lastwagen“ zum berühmten Sternmarsch auf Washington kämen. Malcolm X pflegte mit dem Oldsmobile anzureisen und konnte vom Straßenrand aus nur die Nase über „dieses Picknick“ rümpfen, „das noch die Inszenierungen Hollywoods übertraf“. Die Gesetze über Bürgerrechte und wirtschaftliche Gleichstellung von 1964 resümierte er so: „Man darf es doch nicht Fortschritt nennen, wenn die Schwarzen ein Messer 30 Zentimeter in den Rücken gerammt und nun 20 Zentimeter herausgezogen bekommen.“ Im gleichen Jahr gelang dem kompromißlosen Separatisten und Medienschreck die Gründung der OAAU (Organisation für Afro-Amerikanische Einheit). Ihr sozialistisches Programm (unter anderem zur Wohnungspolitik, Wählerregistrierung und Drogenbekämpfung) bildete die Alternative zu Martin Luther Kings SCLC (Südliche Christliche Führungskonferenz). Aber nicht nur die fehlende Zustimmung für Kings Verhandlungskurs und die Aura des Ghetto-Helden machten Malcolms Reden erfolgreich. Bewunderung erntete auch seine strenge, teilweise asketische Disziplin, der er sich als religiöser Funktionär der Nation of Islam unterstellte.

„Ex„-Sklaven-Sekte

Diese Organisation, deren 70 Spitzenkader sich gar Fruit of Islam nannten, hatte W.D. Fard, ein Kleinhändler aus Detroit, schon in den zwanziger Jahren gegründet. Im aktuellen Klima von Marcus Garveys Afrika-Heimkehrer -Bewegung verschweißte Fard dessen schwarzen Nationalismus mit einer absonderlichen „islamischen“ Evolutionslehre. Seine selbstgebastelte Genesis verkündete die Überlegenheit der afrikanischen Rasse und ihre bevorstehende Rache an den „blauäugigen Teufeln“. Neugeworbene Mitglieder mußten die Namen ihrer Sklavenhalterfamilien gegen ein X austauschen als Zeichen dafür, nun Ex-Sklaven zu sein. Fard und sein Nachfolger Elijah Muhammad, der die Sekte von 1931 bis 1975 anführte, gaben ihrer Doktrin messianische Züge: Als gottgesandte Retter würden sie ihre Anhänger bald vom weißen Joch erlösen.

Warum blieb der brillante Analytiker Malcolm X dieser obskuren Truppe so lange treu, obwohl er sich zusehends eher als politischer Denker denn als religiöser Guru profilierte. Sicher zögerte der 38jährige Vater von sechs Kindern, sein Spitzen-Gehalt, das kostenlose Haus, Auto und Spesenkonto sowie die Aussicht, einmal Sektenchef zu werden, aufzugeben. Wo würde ein linksextremer Schwarzer ohne Berufsausbildung sonst unterkommen? „Die anderen Organisationen lassen mich ja gar nicht rein. Ich stecke in der Falle.“ Und der persönlichen Fürsorge Elijah Muhammads verdankte der „X„ -Ganove Malcolm Little immerhin seinen Aufstieg zum Redner und Medienmann: „Er hat mich aus dem Dreck geholt, auf die Füße gestellt und einen Mann aus mir gemacht.“ Vor allem aber war der Schützling wohl betriebsblind: Vor allem der bornierte Haß auf die Weißen, das Verlangen nach Rache und das demagogische Auftreten der Muslims schien ihm selbstverständlich. Als King an der Universität Boston Theologie studierte, saß X einige Meilen weiter hinter Gittern. Konnte er wissen, daß die Rassenlehre der Nation of Islam noch nicht einmal mit einer fundamentalistischen Lesart des Koran vereinbar war?

Internationaler Revolutionär

Erst seine private Mekka-Fahrt (die Muslims hatten diese Reise nie ermöglicht) öffnete ihm die Augen. Als der Pilger mit dem Titel El-Hajj Malik El-Shabbazz zurückkehrte, hatte er Kontakte mit kubanischen, chinesischen und arabischen Politikern hergestellt und war in Ghana, Guinea und Algerien als „internationaler Revolutionär“ empfangen worden. Jetzt war klar, daß er kein Kandidat für das Black Achievement in Imperien wie Motown oder Jet Magazine mehr werden konnte. Auch der Marsch durch die Institutionen als Direktor von Minderheitenprogrammen war versperrt. Der Verbalradikalist schickte sich an, Organisator einer alternativen Außenpolitik zu werden. „Omowale“ („das Kind ist heimgekommen“), so sein in Nigeria verliehener Ehrentitel, plante bereits weitere Reisen nach Lateinamerika und in die Karibik. Bei einer Europa-Tournee wies ihn die französische Regierung kurz vor einer Rede gegen das Vietnam -Engagement der USA aus. Wußte Paris von Vorbereitungen für einen Mord? Jedenfalls rechnete Malcolm X nun, nachdem er schon einmal im Auto angegriffen worden war, fest mit einem Attentat.

Ob die Schüsse an jenem Februarsonntag in New York im Auftrag der Nation of Islam oder sogar des FBI fielen, von dem sich der Botschafter der Schwarzen Befreiung in Afrika auf Schritt und Tritt verfolgt fühlte, ist ungeklärt. Seine Wende vom religiösen Fanatiker zum schwarzen Internationalisten war beiden ein Dorn im Auge. Malcolm X wurde erst ein Opfer seiner Herkunft und Hautfarbe und dann ein Opfer der Organisation, mit der er versucht hatte, sich von dieser Herkunft zu befreien. Der Leitspruch, den er einst selbst gepredigt hatte, wandte sich nun gegen ihn selbst: „Wir vergessen nicht, wir vergeben nicht.“