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Wider die Vereinigung der Kommerzmacht

Kritische PDS-Wissenschaftler legen ihr DDR-„Umbaupapier“ vor / Die DDR darf nicht das „Traumland des Kapitals“ werden  ■  Von David Singer

Eines der zahlreichen Gespräche mit der DDR-Elite. Diesmal beim Mittagessen in West-Berlin, mit einem Medizin-Professor von der Charite: „Warum ducken sich jene, welche die allseits so konsensfähige 'friedliche Revolution‘ entscheidend mit vorangetrieben haben, vor den Einigvaterländern nur noch? Warum warnt niemand vor den Folgen des auch in Leipzig laut herbeigeschrieenen Anschlusses für die DDR-Bürger? Wo ist das Modell einer gleichberechtigten, ökonomisch, ökologisch und sozial verträglichen Kooperation, in welcher staatlichen Gestalt auch immer, geblieben?“

Antwort: „Jene, die zugleich vorsichtiger und radikaler darüber nachdenken, gehören vornehmlich der ehemaligen SED an, und die ist auf absehbare Zeit diskreditiert.“

Diskussion mit Günter Grass in Ost-Berlin. Eingeladen hat der zum linken DDR-SPD-Flügel zählende Kreisverband Prenzelberg. Thema unter anderen: Das erneute Schweigen der Intellektuellen, das schnelle Nachgeben der Linken drüben wie hüben angesichts eines angeblich unumkehrbaren Drucks, gar das „Verbot, zu träumen“. Eine sagt: „Es stimmt, es gibt noch viele, die nicht alles wegwerfen wollen, was DDR -Identität ist, vielleicht sogar -Errungenschaft; aber wir trauen uns kaum noch, den Mund aufzumachen.“ Ein anderer zum einsam mahnenden West-Schriftsteller: „Auf den Montagsdemos würden Sie keine 30 Sekunden durchhalten.“

Traum-, Denk- und Redeverbot in dem Land, wo Demokratie erkämpft wurde? Erscheint einer der wenigen Denkanstöße deswegen in einem Westberliner Verlag? Es sind „Diskreditierte“, die nicht den Hals auch noch gleich vom „Menschlichen Antlitz“ gewendet haben, die ihn vorlegen. Acht Autorinnen und Autoren - Wirtschafts- und Politikwissenschaftler, Philosophen, Staatsrechtler -, die im Forschungsprojekt „Grundlagen einer Theorie des modernen Sozialismus“ an der Humboldt-Universität zusammenarbeiten, gehen weiter als die moralisch argumentierenden (was nicht a priori „realitätsfremd“ heißt) Heym, Schorlemmer oder Grass: Sie bemühen sich um eine ökonomische Begründung für die Notwendigkeit, einen Begriff neu zu füllen, der in in der BRD (zeitweilig auch in dieser Zeitung) wie in der DDR allzu rasch beerdigt wurde.

Daß es Forschungsergebnisse und Diskussionsbeiträge von Mitgliedern der heutigen PDS publiziert, weckt im Kollektiv des Rotbuch-Verlages Erklärungsbedürfnisse: „Auch wir haben auf der Mauer getanzt.“ Es handele sich aber um ein prägnantes und originelles „Angebot auch an uns, produktiv über Systemgrenzen hinwegzudenken“.

Dabei wird eine Sozialismusidee vertreten, die manchem Alt-Linken und mancher Neu-Grünen eher als zu libertär erscheinen mag. „Sozialismus ist für mich eine Gesellschaft, deren Entwicklungsrichtungen... Raum für die Entwicklung von Individuen erzeugen“ (Land). Es sei der „Unmittelbarkeitskommunismus“ (Unmittelbarkeit ohne Gewinn und ohne Staat zum Beispiel), welcher durch den Stalinismus ad absurdum geführt wurde: „Wer die Unmittelbarkeit pur will, der erntet die unkontrollierte, demokratischer Bindungen enthobene, von Individuen gänzlich abgekoppelte... Politik-, Wirtschafts- und Kulturmacht.“

In bürgerlichen Demokratien hingegen seien „Politikmächte aus den geheimen Kronräten“ herausgezogen worden, nicht zuletzt durch Bürgerinitiativen.

„Heute geht es um denselben Prozeß in der Wirtschaft.“ Darin, und nicht in der Ablehnung von „Rentabilität“, würde sich eine sozialistische Wirtschaft von einer kapitalistischen unterscheiden, in der sich „zwar der eine oder andere autonome Räume schaffen kann, aber eben nur wenige“.

Daraus leitet sich die konkrete Warnung ab: Wenn den Bürgerinnen und Bürgern der DDR nicht die Zeit bleibt, ihre Wirtschaft zu entwickeln, auch rentabel zu machen, aber vor allem demokratisch, dann wäre eine „Kommerzialisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens“ die Folge, „dann ist die DDR das optimale Feld kapitalistischer Wirtschaftsstrategien: niedriges Einkommensniveau, niedriger sozialer Standard, geringe wirtschaftliche Mitbestimmungsrechte, geschwächte und unerfahrene Gewerkschaften... und kaum vorhandene öffentliche Kontrolle der Wirtschaft. Das Traumland des Kapitals.“

Das „Umbaupapier“ ist Kernstück des soeben erschienenen Buches. Es ist eine aktualisierte, von der vielleicht unvermeidlichen Sprachverbiegung unter Honecker entstaubte Fassung einer Studie, welche das seit Ende 1988 arbeitende „Sozialismusprojekt“ schon im vergangenen Sommer (ungehört? unter Repressalien?) vorgelegt hatte. Umrankt ist es von Analysen zur - vor allem internationalen - Lage der deutschen demokratisch werdenden Nochrepublik. Aber auch Elf Thesen zur Krise von DDR und SED sind nachzulesen, die - im Oktober 1989 verfaßt - mit ihrer anpasserischen Unterwürfigkeit erschrecken - oder umgekehrt den Mut bewundern lassen, sie jetzt noch abzudrucken.

Dies ist eine Rezension, wie sie klassischerweise nicht sein sollte: nach erstem, zwangsläufig eher flüchtigem Lesen. Dabei verlangen die teils komplizierten Texte Zeit, und beileibe nicht allen Thesen ist zuzustimmen.

Die Zeit drängt indessen auch, die Auseinandersetzung endlich anzufangen. Mit den Marons zum Beispiel, die der DDR-Bevölkerung keine Experimente mehr zumuten möchten, verschweigend, daß sie sich bei der schieren Übernahme durch den Weststaat noch viel belastenderen Experimenten aussetzen wird. Mit den Eppelmanns, die Demütigungen in „volle Erfolge“ ummünzen, weil sie sich der Disziplin ihrer Parteizentrale in Bonn unterwerfen. Mit jenen, die sich kulturelle Gemeinsamkeit nur in einem nationalen Groß-Staat vorstellen können, den es nur 74 Jahre lang gab und der gerade in dieser Zeit die Welt mehrfach das Fürchten lehrte.

Selbst wenn tatsächlich „der Zug abgefahren“ sein sollte: Der Streit um Konzepte muß jetzt beginnen, Positionen sind heute anzumelden - und sei es für Europa, über das doch alle so viel reden.

Rainer Land (Hrg.): Das Umbaupapier (DDR). Rotbuch Verlag West-Berlin, 189 Seiten, 15 DM

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