Ignaz Kiechle probt den Nahrungsnotstand

Mit einem neuen „Ernährungsvorsorgegesetz“ will die Bundesregierung im Krisenfall die Marktwirtschaft abschaffen / Die Erfahrungen nach Tschernobyl und mögliche Tierseuchen als angebliche Auslöser für das Regelwerk / Notstandsplanung für ein Kriegsszenario?  ■  Aus Bonn Charlotte Wiedemann

Enteignungen, Diktat von Preisen und Lieferbedingungen, Verkaufsverbote - mit allen ansonsten verfemten Instrumenten einer zentralen Kommandowirtschaft möchte die Bundesregierung die gesamte Nahrungsbranche dirigieren. Für den Fall einer Gefährdung der Lebensmittelversorgung soll der Bundestag dem Kanzler und seinem Ernährungsminister Kiechle schon jetzt eine Blankovollmacht zur Abschaffung der Marktwirtschaft ausstellen. Der Entwurf eines „Ernährungsvorsorgegesetzes“ wurde vergangene Woche ins Parlament eingebracht, ohne Debatte und öffentliches Aufsehen, im Windschatten der Deutschlandpolitik

Wenn die Bundesregierung gemäß einer recht vagen Definition die „Versorgungskrise“ festgestellt hat, kann sie nach diesem Gesetz die gesamte Nahrungsbranche mit einem engmaschigen Netz diktatorischer Vorschriften überziehen: Vom Kohlkopf bis zum Fertigmenü - Produktion, Verteilung und Kennzeichnung von Gütern, selbst die Verpackung wird von Bonn aus bestimmt. Bundestag und Länderkammer werden nicht befragt, Betriebsangehörigen drohen bei Verstößen gegen die Anordnungen Bußgelder und Freiheitsstrafen.

Glaubt man den Worten Kiechles, dann dient das Paragraphenwerk allein der „Bewältigung friedenszeitlicher Versorgungskrisen“. Deren Auslöser realitätsnah zu beschreiben, fällt den Kiechle-Beamten aber sichtlich schwer: „Tierseuchen größeren Ausmaßes“, „massive Störungen der Weltmärkte“, konkret bleibt nur das Reaktorunglück von Tschernobyl. Doch selbst in diesem Fall müssen die Ministerialen einräumen, daß „trotz der großräumigen Kontamination“ ein Versorgungsengpaß damals nicht in Sicht war.

Sowenig also der friedensmäßige Bedarf für ein derartiges Gesetz belegt ist, um so aufschlußreicher ist der Blick in ein Papier der Hardthöhe. Die Rahmenrichtlinien für Gesamtverteidigung, im vergangenen Jahr erlassen, besagen: „Das Ziel aller Planungen zur Ernährungsvorsorge ist, die Zivilbevölkerung und die Streitkräfte auch in einer Krise und im Verteidigungsfall gleichmäßig und sozial gerecht mit Nahrungsmitteln zu versorgen.“ Zwar gibt es für diesen Zweck schon ein klassisches Notstandsgesetz, das sog. „Ernährungssicherstellungsgesetz“. Doch kann es erst in Kraft treten, wenn parlamentarisch der Spannungsfall (80a GG) ausgerufen wird. Diese lästige Bindung zu umgehen, könnte der eigentliche Grund für das jüngste Bonner Gesetzesvorhaben sein.

Die Richtlinien mahnen nämlich ausdrücklich, daß bereits zu Friedenszeiten in Bund, Ländern und Gemeinden die Voraussetzungen für die „reibungslose“ Abwicklung der Zwangsbewirtschaftung im Ernstfall geschaffen werden müßten. Genau diese Lücke füllt das Kiechle-Gesetz: Produzenten und Verbraucher in der Lebensmittelbranche werden einer weitgehenden Melde- und Auskunftspflicht unterworfen, die auch personenbezogene Daten umfaßt. Das Strickmuster des Gesetzes kommt so einem juristischen Kunstgriff gleich: Aus dem alten, mit Kriegsgeruch behafteten Gesetz zur „Ernährungssicherstellung“ wird alles ausgelagert, was nicht direkt militärischen Belangen dient. Das so bestückte neue „Vorsorgegesetz“ kann nun, unter unverdächtiger Friedensflagge, eine Notstandsplanung auf den Weg bringen, die von ihrem Ausmaß einem Kriegsszenario angemessener ist als dem Ausbruch einer Tierseuche.

Für die Grünen ist der neue Gesetzentwurf denn auch ein Beleg, daß die Bundesregierung „unbeirrt von der Ost-West -Entwicklung“ die Planungen für einen Kriegsfall weiter vorantreibe. Und zwar nicht nur am Schreibtisch: Sechs Millionen Mark zusätzlich veranschlagt dieses Jahr der Verteidigungsetat, um die Lebensmittelvorräte für den Kriegsfall aufzustocken. Gemäß einer Nato-Empfehlung soll die Bevölkerung mit der Kost aus der Büchse 30 Tage ausharren können.