Den Nordwalisern ist Europa egal

„Ich bin weder für noch gegen den europäischen Binnenmarkt“, sagt David, ein 30jähriger Volksschullehrer aus Dwyfor in Wales. „Die europäische Einheit wird sich für uns kaum bemerkbar machen. Unsere Kultur wird durch die Engländer zerstört.“ Für David ist Englisch eine Fremdsprache, seine Muttersprache ist Walisisch. Er lebt auf der Lleyn-Halbinsel an der Nordspitze von Wales.

Seit die britische Regierung im vergangenen Jahr eine Schnellstraße durch Nordwales gebaut hat, um die Fahrzeit zwischen Liverpool und der walisischen Hafenstadt Holyhead in Anglesey drastisch zu verkürzen, hat der Durchgangsverkehr stark zugenommen. Auf Lleyn hat die sechsspurige Straße auf den ersten Blick kaum Auswirkungen gehabt. Die Einwohner leben relativ isoliert in kleinen Bauernhäusern und strohgedeckten Hütten. Die meisten arbeiten in der Landwirtschaft. Die dünnbesiedelte Halbinsel mit ihren grünen Weiden, die durch Hecken und Steinmauern begrenzt sind, macht einen friedlichen Eindruck. Doch eine Reihe ausgebrannter Landhäuser, oft an den landschaftlich schönsten Orten, zeigt, daß der Eindruck täuscht. Auf mehrere Ruinen sind mit weißer Farbe die Worte „Meibion Glyndwr“ gepinselt.

„Meibion Glyndwr“ ist der walisische Begriff für „Söhne von Glendower“. Diese Geheimgesellschaft - benannt nach jenem Heroen, der 1400 vorübergehend die walisische Unabhängigkeit erkämpfte - hat in den vergangenen elf Jahren über 170 englische Ferienhäuser in Brand gesteckt, viele davon auf Lleyn. Personen sind dabei nicht zu Schaden gekommen. Obwohl ein Unbekannter 50.000 Pfund (knapp 150.000 DM) Belohnung für die Ergreifung der Täter ausgesetzt hat, ist es der Polizei bis heute nicht gelungen, auch nur einen Brandstifter zu fassen. Zwar wurden bei einer Parade zum Gedenken an zwei Nationalisten im letzten Juli neun Männer verhaftet, die in paramilitärischen Uniformen und mit dunklen Sonnenbrillen auf der Nase marschiert waren, doch sie mußten aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen werden. Die Behörden wissen, daß die „Söhne von Glendower“ von der Bevölkerung gedeckt werden: Es ist völlig unmöglich, auf Lleyn irgendwelche Aktionen durchzuführen, ohne daß die Nachbarn etwas davon bemerken.

Auf Lleyn ist die walisische Sprache noch am weitesten verbreitet. Bei der letzten Volkszählung gaben 81,5 Prozent der Bevölkerung an, Walisisch als Umgangssprache zu benutzen. In den Schulen und Geschäften, im Landrat und selbst im „Konservativen Klub“ wird walisisch gesprochen. „Meibion Glyndwr“ befürchtet jedoch, daß die englischen Ferienhausbesitzer die walisische Kultur verdrängen werden eine Angst, die auch ein Großteil der Bevölkerung empfindet. Eine Umfrage hat im vergangenen Sommer ergeben, daß 85 Prozent der Einwohner Lleyns die Ziele der „Söhne von Glendower“ teilen, auch wenn sie nicht unbedingt mit deren Mitteln einverstanden sind. Sympathien mit der Organisation werden inzwischen offen gezeigt. Viele junge Leute tragen T -Shirts mit dem Aufdruck „Ta Ta Ty Ha Ha Ha“. „Ty Ha“ ist das walisische Wort für „Ferienhaus“.

Im letzten Sommer hat „Meibion Glyndwr“ neben den Ferienhäusern auch Domizile von Engländern, die sich fest auf Lleyn niedergelassen haben, zu legitimen Angriffszielen erklärt. Lehrer David sagt, daß die Siedler eine viel größere Gefahr für die walisische Kultur, die keltischen Sitten und Bräuche darstellten als die Ferienhausbesitzer: „Sie schicken ihre Kinder in unsere Schulen und Kindergärten, kaufen Läden auf und drängen dadurch unsere Sprache immer mehr zurück.“

Darüber hinaus treiben die Engländer die Hauspreise hoch, so daß ein Eigenheim für die Einheimischen unerschwinglich wird: In den letzten zwei Jahren sind die Preise um fast 50 Prozent gestiegen. Außerdem besteht die Gefahr, daß sich aufgrund der Schnellstraße der Einzugsbereich von Liverpool bis weit nach Wales hinein ausdehnen wird. Der nationalistische Landrat Owain Williams fordert daher einen „Einwanderungsstopp“: „Der Außenminister behauptet, daß Großbritannien keine drei Millionen Hongkong-Chinesen aufnehmen könne, weil das soziale Probleme schaffen würde. Aber genau dasselbe passiert in Wales jedes Jahr mit 70.000 englischen Immigranten.“ Williams sagt, er könne die „Söhne von Glendower“ nicht verurteilen, solange London sämtliche Lösungsvorschläge für das Problem ignoriere.

Die Behörden machen durch ihr Verhalten die Sache nur noch schlimmer, glaubt Lehrer David: „Die Polizei versucht die Brandstifter mit allen Tricks zu fassen. Vergangenen Sommer haben sie dem Vorsitzenden der Walisischen Sprachliga eine Wanze ins Auto gebaut. Aber dadurch erreichen sie genau das Gegenteil: Die Sympathien für 'Meibion Glyndwr‘ wachsen immer mehr.“

Ralf Sotscheck