In Memoriam

■ Letztes Gedenken und erste Erinnerung an eine verschwundene Heilige Stätte in Mitteleuropa. Eine archäologische Dekonstruktion

Ehe in naher Zukunft nichts, aber auch nichts mehr an den Heiligen Ort erinnern wird, ehe die Geschichte in gleichmütiger Gelassenheit die letzten sichtbaren Überreste jener Stätte hinweggefegt haben wird - einer Stätte, die über ein Menschenalter hinaus sowohl Schizophrenie erzeugender Gegenstand heiligen Entsetzens war als auch identitätsstiftendes extraterritoriales Zentrum unseres doppelt vorhandenen Volkes -, sei auf diesen Seiten jenes sakralen Profanums gedacht, welches da hieß DIE MAUER und auf der Welt nicht seinesgleichen hatte.

Jener aus dem Alltäglichen ausgegrenzte Bezirk, der dem deutsch-deutschen KULT vorbehalten war und, wie die Tempel und Kirchen vieler Religionen und Kulturen, „als wichtiges Element die gemeindebildende Funktion mit einbezog und oft als mythischer Mittelpunkt der Welt gesehen“ wurde (Brockhaus), war ein Ort der Schmerzen und Hoffnungen, ein Ort, den das vergossene Blut manch bitteren Menschenopfers geheiligt hat.

Im Sinne der Archäologie, jener „Wissenschaft von den materiellen Überresten, den sichtbaren Zeugnissen der alten Kulturen, wie sie durch Ausgrabungen gewonnen, aber auch mit Hilfe literarischer Überlieferung erschlossen werden können“ (Brockhaus), sei auf diesen Seiten ebenso letzten Bildern des nun nicht mehr Vorhandenen das Wort gegeben wie auch unseren Dichtern und Denkern.

Es mag dabei zum Trost an den Satz eines französischen Philosophen erinnert werden, welchem zufolge ein Gegenstand erst dann durchdacht und vollendet geplant ist, wenn neben seiner Funktion die Disfunktion kalkuliert wird. Die Ruine also und schließlich deren Leerstelle, der architekturbefreite Raum, wären somit letztendliches Ziel jeder historischen Konstruktion.

CD TEXT I

O siehe! Rief jetzt Diotima mir plötzlich zu. Ich sah, und hätte vergehen mögen vor dem allmächtigen Anblick.

Wie ein unermeßlicher Schiffbruch, wenn die Orkane verstummt sind und die Schiffer entflohn, und der Leichnam der zerschmetterten Flotte unkenntlich auf der Sandbank liegt, so lag vor uns Athen, und die verwaisten Säulen standen vor uns, wie die nackten Stämme eines Walds, der am Abend noch grünte, und des Nachts darauf im Feuer aufging.

Hier, sagte Diotima, lernt man stille sein über sein eigen Schicksal, es seie gut oder böse. Hier lernt man stille sein über Alles, fuhr ich fort. Hätten die Schnitter, die dies Kornfeld gemäht, ihre Scheunen mit seinen Halmen bereichert, so wäre nichts verloren gegangen, und ich wollte mich begnügen, hier als Ährenleser zu stehn; aber wer gewann denn?

Ganz Europa, erwidert‘ einer von den Freunden. O ja! Rief ich, sie haben die Säulen und Statuen weggeschleift und an einander verkauft, haben die edlen Gestalten nicht wenig geschätzt, der Seltenheit wegen, wie man Papageien und Affen schätzt. Sage das nicht! Erwiderte derselbe; und mangelt‘ auch wirklich ihnen der Geist von all dem Schönen, so war es, weil der nicht weggetragen werden konnte und nicht gekauft.

Ja wohl! Rief ich. Dieser Geist war auch untergegangen noch ehe die Zerstörer über Attika kamen. Erst, wenn die Häuser und Tempel ausgestorben, wagen sich die wilden Tiere in die Tore und Gassen.

Wer jenen Geist hat, sagte Diotima tröstend, dem stehet Athen noch, wie ein blühender Fruchtbaum. Der Künstler ergänzt den Torso sich leicht.

Wir gingen des andern Tages früh aus, sahn die Ruinen des Parthenon, die Stelle des alten Bacchustheaters, den Theseustempel, die sechszehn Säulen, die noch übrig stehn vom göttlichen Olympion; am meisten aber ergriff mich das alte Tor, wodurch man ehmals aus der alten Stadt zur neuen herauskam, wo gewiß einst tausend schöne Menschen an Einem Tage sich grüßten. Jetzt kömmt man weder in die alte noch in die neue Stadt durch dieses Tor, und stumm und öde stehet es da, wie ein vertrockneter Brunnen, aus dessen Röhren einst mit freundlichem Geplätscher das klare frische Wasser sprang.

Ach! Sagt ich, indes wir so herumgingen, es ist wohl ein prächtig Spiel des Schicksals, daß es hier die Tempel niederstürzt und ihre zertrümmerten Steine den Kindern herumzuwerfen gibt, daß es die zerstümmelten Götter zu Bänken vor der Bauernhütte und die Grabmäler hier zur Ruhestätte des weidenden Stiers macht, und eine solche Verschwendung ist königlicher, als der Mutwille der Kleopatra, da sie die geschmolzenen Perlen trank; aber es ist doch schade um all die Größe und Schönheit!

Aus: Friedrich Hölderlin, Hyperion

TEXT II

Ein Bauwerk, ein griechischer Tempel, bildet nichts ab. Er steht einfach da inmitten des zerklüfteten Felsentales. Das Bauwerk umschließt die Gestalt des Gottes und läßt sie in dieser Verbergung durch die offene Säulenhalle hinausstehen in den heiligen Bezirk. Durch den Tempel west der Gott im Tempel an. Dieses Anwesen des Gottes ist in sich die Ausbreitung und Ausgrenzung des Bezirkes als eines heiligen. Der Tempel und sein Bezirk verschweben aber nicht in das Unbestimmte. Das Tempelwerk fügt erst und sammelt zugleich die Einheit jener Bahnen und Bezüge um sich, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall - dem Menschenwesen die Gestalt seines Geschickes gewinnen. Die waltende Weite dieser offenen Bezüge ist die Welt dieses geschichtlichen Volkes. Aus ihr und in ihr kommt es erst auf sich selbst zum Vollbringen seiner Bestimmung zurück.

Dastehend ruht das Bauwerk auf dem Felsgrund. Dies Aufruhen des Werkes holt aus dem Fels das Dunkle seines ungefügen und doch zu nichts gedrängten Tragens heraus. Dastehend hält das Bauwerk dem über es wegrasenden Sturm stand und zeigt so erst den Sturm selbst in seiner Gewalt. Der Glanz und das Leuchten des Gesteins, anscheinend selbst nur von Gnaden der Sonne, bringt doch erst das Lichte des Tages, die Weite des Himmels, die Finsternis der Nacht zum Vorschein. Das sichere Ragen macht den unsichtbaren Raum der Luft sichtbar. Das Unerschütterte des Werkes steht ab gegen das Wogen der Meerflut und läßt aus seiner Ruhe deren Toben erscheinen. Der Baum und das Gras, der Adler und der Stier, die Schlange und die Grille gehen erst in ihre abgehobene Gestalt ein und kommen so als das zum Vorschein, was sie sind. Dieses Herauskommen und Aufgehen selbst und im Ganzen nannten die Griechen frühzeitig die physis. Sie lichtet zugleich jenes, worauf und worin der Mensch sein Wohnen gründet. Wir nennen es die Erde. Von dem, was das Wort hier sagt, ist sowohl die Vorstellung einer abgelagerten Stoffmasse als auch die nur astronomische eines Planeten fernzuhalten. Die Erde ist das, wohin das Aufgehen alles Aufgehende und zwar als ein solches zurückbirgt. Im Aufgehenden west die Erde als das Bergende.

Aus: Martin Heidegger, Holzwege TEXT III

Gestehen wir jedoch, es ist ein saures und trauriges Geschäft, das alte Berlin aus dem neuen herauszuklauben, aber man muß es denn doch tun und zuletzt eine unschätzbare Befriedigung hoffen. Man trifft Spuren einer Herrlichkeit und einer Zerstörung, die beide über unsere Begriffe gehen. Was die Barbaren stehenließen, haben die Baumeister des neuen Berlin verwüstet.

Wenn man so eine Existenz ansieht, die siebenhundertundfünfzig Jahre und darüber alt ist, durch den Wechsel der Zeiten so mannigfaltig und vom Grund aus verändert und doch noch derselbe Boden, derselbe Berg, ja oft dieselbe Säule und Mauer, und im Volke noch die Spuren des alten Charakters, so wird man ein Mitgenosse der großen Ratschlüsse des Schicksals, und so wird es dem Betrachter von Anfang schwer, zu entwickeln, wie Berlin auf Berlin folgt, und nicht allein das neue auf das alte, sondern die verschiedenen Epochen des alten und neuen selbst aufeinander. Ich suche nur erst selbst die halbverdeckten Punkte herauszufühlen, dann lassen sich erst die schönen Vorarbeiten recht vollständig nutzen; denn seit dem fünfzehnten Jahrhundert bis auf unsere Tage haben sich treffliche Künstler und Gelehrte mit diesen Gegenständen ihr ganzes Leben durch beschäftigt.

Aus: Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise TEXT IV

Der Architekt war stets unter der Suggestion der Macht. Im Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über die Schwere, der Wille zur Macht versichtbaren: Architektur ist eine Art Macht-Beredsamkeit der Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloß befehlend. Das höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum Ausdruck, was großen Stil hat. Die Macht, die keinen Beweis mehr nötig hat; die es verschmäht, zu gefallen; die schwer antwortet; die keinen Zeugen um sich fühlt; die ohne Bewußtsein davon lebt, daß es Widerspruch gegen sie gibt; die in sich ruht, fatalistisch, ein Gesetz unter Gesetzen. Das redet als großer Stil von sich. Aus: Friedrich Nietzsche,

Götzen-Dämmerun

TEXT V

Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlend nach Wurzeln, sei es daß er auch in den entlegensten Altertümern nach ihnen graben müßte. Worauf weist das ungeheure historische Bedürfnis der unbefriedigten modernen Kultur, das Umsichsammeln zahlloser anderer Kulturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des Mythos, auf den Verlust der mythischen Heimat, des mythischen Mutterschoßes? Man fragt sich, ob das fieberhafte und so unheimliche Sichregen dieser Kultur etwas anderes ist als das gierige Zugreifen und Nach-Nahrung-Haschen des Hungernden - und wer möchte einer solchen Kultur noch etwas geben wollen, die durch alles, was sie verschlingt, nicht zu sättigen ist, und bei deren Berührung sich die kräftigste, heilsamste Nahrung in Historie und Kritik zu verwandeln pflegt. Aus: Friedrich Nietzsche,

Die Geburt der Tragödi

TEXT VI

Es scheint hier jedermann zu wissen, was sich schickt, und das erzeugt eine gewisse Kälte, und es scheint ferner, daß hier jedermann sich durch sich selbst behauptet, und dies ruft die Ungestörtheit hervor, die der Neuling hier bewundert. Die Armut scheint hinausgeschoben in die Viertel, die an die offenen Felder streifen, oder nach innen ins Düster und Dunkel der Hinterhäuser gedrängt, die von den herrschaftlichen Vorderhäusern verdeckt werden wie von mächtigen Körpern. Es scheint, als habe hier die Menschheit aufgehört zu seufzen und angefangen, ihres Lebens und Daseins endgültig froh zu sein. Doch der Schein trügt, und die Pracht und Eleganz sind nur ein Traum. Aber auch das Elend ist vielleicht nur eine Einbildung. Was die Eleganz des Westens von Berlin betrifft, so scheint sie ausgezeichnet durch Lebhaftigkeit und zugleich ein wenig verdorben durch die Unmöglichkeit, sie ruhig zu entfalten. Es steckt hier übrigens alles in einer fortlaufenden Entfaltung und Veränderung.... Nun ja, vielleicht wedle und scharwenzle und schmeichle ich jetzt ein bißchen; wie z.B. durch folgenden Satz: Die hiesigen Frauen sind schön und anmutig! Die Gärten sind sauber, die Architektur ist vielleicht ein wenig drastisch, was kann das mich kümmern. Es ist heute ja jedermann überzeugt, daß wir Stümper sind im Großen, Stilvollen und Monumentalen und wahrscheinlich deshalb, weil in uns zu sehr der Wunsch lebt, Stil, Größe und Monumentalität zu besitzen oder zu erzeugen. Wünsche sind schlimme Dinge. Unser Zeitalter ist entschieden das Zeitalter der Empfindlichkeit und Rechtlichkeit, und das ist doch sehr hübsch von uns. Wir haben Fürsorgeanstalten, Krankenhäuser, Säuglingsheime, und ich bilde mir gerne ein, das sei doch auch etwas. Wozu alles wollen?

Aus: Robert Walser, Berlin W