Ganz Berlin ist eine Schaukel!

■ Der Lenz ist da! / Gestern Rekordtemperatur von 18,6 Grad in Berlin / Dem Eisverkäufer am Prenzelberg geht die Schokolade aus, die Wilmersdorfer Witwen marschieren vors Kranzler / Berlin sitzt nicht mehr auf dem Pulverfaß, sondern auf der Schaukel

Das Ereignis hatte sich schon am Vorabend angekündigt: Es hockte am Dienstag gegen 22 Uhr eine Frau auf dem Straßengeländer vor dem Checkpoint Charlie, ließ die Beine baumeln und las ein Buch. Ein Kerl, der gerade im Osten sein Glück versucht hatte, stoppte auf der gegenüberliegenden Fahrbahn, stieg aus und fragte sie: „Wieviel?“ „Ich lese hier bloß. Es ist Frühling!“ antwortete sie ruhig. Vom Mißverständnis peinlich berührt zog der Mann wieder ab. Sein puterroter Kopf war trotz der Dunkelheit noch weithin zu erkennen und sein „Frühling. Achso. Jaja“ bis zum Zufallen der Autotür nicht zu überhören.

Was die junge Dame schon vorher im Blut hatte, konnten die Berliner gestern von ihren Thermometern ablesen: Der Lenz ist da. Über 18 Grad vermerkten die Wetterforscher in ihren Statistiken. So warm war es an der Spree noch nie im Februar, zumindest nicht seit 160 Jahren. Über die Zeit davor existieren keine Unterlagen. Denn obwohl die Celsius -Skala schon 1742 eingeführt wurde, kam man in Berlin erst 1830 auf die Idee, die Tagestemperaturen systematisch aufzuschreiben. Was heute viele für den Nabel der Welt halten, ist eben noch nicht so lange eine Metropole.

In den letzten 28 Jahren hockten die Berliner - zumindest wurde ihnen das immer wieder versichert - auf einem Pulverfaß. Gestern saßen wir alle auf einer Schaukel. „Die Temperatur schwingt hin und her“, erklärt ein FU -Metereologe. Während sich die Kanadier gestern bei Temperaturen von 20 Grad minus nur mit Fäustlingen auf die Straße trauten, begann für die Straßencafes am Kudamm die Saison. Da man aber niemals nur in eine Richtung schaukelt, „kann das mit den Temperaturen im nächsten Jahr schon wieder andersrum sein“, mahnt der Experte. Höher geht's wirklich kaum noch: Nur im Februar des Jahres 1912 wurde hier ein annähernd hoher Wert - 16,7 Grad - gemessen.

Die Sonnenstrahlen mobilisierten gestern beide Hälften der Stadt. Auf dem Polenmarkt trockneten die Pfützen weg, was die Schuhe der Händler sauber hielt und wegen der um sich greifenden guten Laune kurzfristig die Preise sinken ließ. In Wilmersdorf griffen die Witwen zum Tirolerhut und marschierten sodann zu Kaffee und Schwarzwälder Kirsch ins Cafe Kranzler. Wenige Meter davon entfernt konnte ein fliegender Händler Traumumsätze mit einem Fensterreinigungsmittel erzielen, der einer staunenden Menge an der Testscheibe die umwerfende kohlenstaubreinigende Wirkung seines Präparats demonstrierte: „Kommse ran, meine Damen, mit mein‘ Mittel is Frühjahrsputz kein Problem!“ Am Helmholtzplatz des Prenzlauer Bergs entspann sich inmitten Dutzender Kinder, Mütter und Väter ein Streit auf dem Spielplatz: Ein Steppke wollte nicht mehr Erich heißen und sich von seinen Kameraden fortwährend verhaften und in den Sandkasten abführen lassen. „Ick spiel nich mehr!“ heulte er wütend auf und vertrieb die „Vopos“ von der Rutsche. Einem Eisverkäufer gegenüber, der auch im strengsten Winter nicht über Einnahmen klagen kann, ging gestern endgültig die Schokolade aus. Schließlich der Grenzbeamte vom Brandenburger Tor, der die Eurocheckkarte eines Wessis als Reisedokument anerkannte und ihn, die Sonne anpfeifend, passieren ließ.

Berlin war gestern einer der heißesten Plätze Europas. Und obwohl 18,6 Grad Celsius noch weit vom Siedepunkt entfernt sind, wurde am Mittwoch, dem 21.2., die Insel West-Berlin endgültig an das Umland angeschmolzen. Zehntausende schlenderten vergnügt die Straßen der anderen entlang, wollten weder ins Kadewe noch ins Kaufhaus Centrum: Sie wollten bloß in den Frühling, die Seele in der Sonne baumeln lassen und „schaukeln“.

Claus Christian Malzahn